Islām und Moderne - Teil 13: Wie kann der Islām mit der Moderne vereinbart werden?

11/07/2010| IslamWeb

Islâm und Moderne: Wie kann der Islâm mit der Moderne vereinbart werden?

 
Der Islâm ist eine umfassende Religion, die alle Bereiche des Lebens behandelt und eine Antwort auf jede Frage gibt. So gibt es keinen Grund für das Staunen, das manche Unwissende zeigen, wenn man nach der islâmischen Meinung zu einer modernen wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, medizinischen oder gesellschaftlichen Angelegenheit fragt. Im Leben des Muslims ist der Islâm die regierende Instanz, denn der Begriff Religion wird unter Muslimen anders verstanden als es im praktischen Verständnis der Europäer etwa der Fall ist. Im Westen wird die Religion heutzutage nichts mehr als eine innere Beziehung zwischen dem Menschen und Gott, deren Rahmen sich auf Gottesfurcht, Frömmigkeit beschränkt. Religion im islâmischen Sinne bedeutet hingegen ein kompaktes System, das Politik, Wirtschaft, gesellschaftliche, militärische aber auch wissenschaftliche Angelegenheiten reguliert.
 
Die Vollkommnenheit, mit welcher der Islâm sowohl im Qurân als auch in der Tradition des Propheten Muhammad  möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken alle Themen vom Dies- und Jenseits ausführlich bestimmt, aufgreift und darstellt, lassen jeden fair-denkenden Menschen verwundert zugeben, dass es sich hier um die umfangreichste Religion handelt, die der Mensch je gekannt hat. Auch die Flexibilität, mit der der Islâm alle Fragen behandelt, lässt keine Kluft zwischen den endlichen Texten und den unendlichen Ereignissen entstehen, weil die Aussagekraft dieser Texte unheimlich reich bleibt und jedem Zeitalter adäquat begegnet. Religion im Islâm enthält also Leben und Tod, Gesetz und Moral, Glaube und Gottesdienst, Politik und Wirtschaft, Krieg und Frieden, Dies- und Jenseits, aber auch Kultur, Wissenschaft und Kunst. Das wird nicht erst heute von den Muslimen behauptet, sondern es hat seine lange Tradition in den verschiedenen Bereichen der islâmischen Aktivitäten und steht fest in den alten wie in den euen Quellen islâmischen Denkens. Der Muslim kann daher nichts unternehmen, ohne sich zu fragen, ob die Sache islâmisch legal ist oder nicht.
 
Das bezieht sich auch auf Mediziner, Natur- und Wirtschaftswissenschaftler usw. Jeder muss die islâmischen Kriterien ganz genau beachten und befolgen, die seinen Aktivitätsbereich bestimmen. Religion in diesem Sinne bleibt nicht nur im Bereich der Seele haften, sondern sie beschäftigt sich auch mit der Regelung aller Lebensbereiche, damit die Reinheit der Seele zu den reinen Taten des Einzelnen parallel geht. Denn beide gehören zusammen. Die islâmische Religion ist somit ein umfangreiches System für Dies- und Jenseits.
 
Damit hängt die Glaubensfrage zusammen, die, noch einmal anders als im Westen, einem völlig fundierten und berechtigten Überzeugungsakt entspringt. Für den Muslim gibt es keinen Glauben ohne Überzeugung, ohne Beweise; so ist es nicht von ungefähr, dass der Prophet des Islâms  möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken etwa 13 Jahre in Makka nur für die Gründung des Glaubens im islâmischen Sinne arbeitete, bevor er nach Madîna emigrieren musste und seinen Staat dort gründen konnte. Der makkanische Qurân ist deswegen voller Dialoge, die den Ungläubigen die Wunderzeichen Gottes vor Augen führen, Dialoge, die die richtige Logik des Glaubens festlegen.
 
Islâmisch gesehen ist der Glaube etwas, das man beweisen kann bzw. muss. Das ist völlig anders als das, was Augustinus einst sagte, „ich glaube daran, weil ich es nicht beweisen kann.” Diesen Untersehied muss man erst verstehen, um die angeblich strenge Festhaltung der Muslime an den Regeln ihrer Religion nachzuvollziehen.
 
Wie kann der Islâm mit der Moderne vereinbart werden? Das wollen wir ebenfals kurz besprechen:
 
Der Begriff Moderne wird mehrdeutig gebraucht. Der Begriff wurde von E. Wolff und H. Bahr 189O für den Naturalismus geprägt (als Gegenteil zur Antike). Im Allgemeinen gilt der Begriff für die heutige Zeit. Moderne ist durch Modernisieren erfahrbar, das heißt sich dem neusten Stand der Entwicklungen, Wissenschaften, der Kunst, Mode u. a. anpassen.
 
Was dem Islâm eine Sonderstellung unter allen Religionen verleiht, ist die Tatsache, dass er eine Religion der Wissenschaft ist. Sowohl seine Vorschriften als auch seine praktische Geschichte geben zu verstehen, dass es gar keinen Streit zwischen dem Islâm und der Wissenschaft je gegeben hat. Ganz im Gegenteil stehen die Wissenschaftler - egal ob sie Religions- oder Naturwissenschaftler oder Geisteswissenschafller sind - an der Spitze der Glaubensgemeinschaft, denn sie sind - wie es der Qurân erklärt - diejenigen, “die Gott am meisten befürchten.”
 
Viele Denker und Philosophen halten jede Religion für ein Hindernis vor dem Wissen bzw. vor der Wissenschaft. Dabei sind diese ihrer engstirnigen und einseitigen Betrachtungsweise aus guten oder bösen Gründen ausgeliefert. Daher muss man in diesem Zusammenhang differenzieren, welche Religionen in Feindschaft mit der Wissenschaft standen und noch stehen, und welche Religionen zum Wissen und zur Enthüllung der verschlossenen Geheimnisse dieses Universums aufrufen.
 
Woran kann der Islâm schuldig sein, wenn diese Denker und Philosophen sich über seine Ermutigung des wissenschaftlichen Suchens, seine Einladung, die Wunderzeichen Gottes im Menschen, in der Flora und Fauna und in der ganzen Schöpfung zu erkennen, blind machen? Natürlich kann jede Religion von sich behaupten, wissenschafthich zu sein, der Prüfstein ist aber, inwieweit sich die jeweilige Religion mit dieser Behauptung übereinstimmen und inwieweit kann sie keine Widersprüche diesbezüglich aufweisen.
 
Genauer ausgedrückt hat die moderne Wissenschaft keinen einzigen Widerspruch des Islâms mit den wissenschafthichen Daten registriert, ganz im Gegenteil steht der qurânische Text in vollkommener Harmonie mit den wohl etablierten wissenschaftlichen Tatsachen.
 
Auch hat der Islâm keine von Hass und Vertreibung der Wissenschaftler belastete Geschichte, wie es die anderen Religionen, v. a. das Christentum, haben. Wenn dem so ist, warum klingt es manchen befremdend, wenn wir Muslime von der Meinung des Islâm über diese oder jene gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische oder wissenschafliche Frage sprechen?
 
Das ist ein Zeichen ihrer eklatanten Unwissenheit von der Natur des Islâm. Da müssen wir betonen, dass der Begriff Wissenschaft im Islâm nicht auf die enge Dimension der materiellen Wissenschaft beschränkt, wie es im Westen ist, sondern er umfasst auch, vielleicht vor allem, die seelische Wissenschaft, die den Menschen durch die weltliche und materielle Kenntnis mit seinem Schöpfer verbindet.
 
So gibt es keinen Kontrast zwischen Wissenschaft und Religion, denn der Islâm schließt beide zusammen: die Religion ist im Islâm Wissenschaft (alles Religiöse wird mit der nüchternen Logik der Wissenschaft nachgewiesen) und Wissenschaft ist im Islâm Religion (der Wissenschafler betreibt sogar mit seinem naturwissenschaftlichen Forschen einen religiösen Akt.)
 
In diesem Kontext hat der Islâm Regeln für das wissenschaftliche Handeln gesetzt, damit der Wissenschaftler sich selbst oder den anderen Menschen nicht schadet, indem er die erlaubten Grenzen überschreitet, etwa die zu bewahrende menschliche Würde verletzt, seine Wissenschaft als Mittel zur Verstümmelung oder Verachtung von Gottes Geschöpfen nimmt.
 
 Deswegen setzt der Islâm Grenzen für den Rahmen, in dem sich der Wissenschaftler bewegt. Im Westen, in dem fast niemand auf die Meinung der Religion in den meisten Lebensbereichen mehr hört, ist das Extrem entstanden, das als Reflex auf die katastrophale Engstirnigkeit und Irreführung des Klerus in den wissenschaftlichen Fragen kam (man darf an Kopernikus, Galileo Galilei erinnern).
 
Dieses unkontrolierte Extrem lautet: absolute Freiheit des Menschen, vor allem des Wissenschaftlers, zu tun, was einem gefällt und wozu man auch wissenschaftlich fähig ist. Das ist im Islâm auch anders: Die Freiheit des Menschen wird zwar garantiert, jedoch muss diese Freiheit innerhalb eines Spielraumes bleiben, denn der Mensch lebt einerseits nicht alleine, andererseits führt die übertriebene persönliche Freiheit meistens dazu, dass jedes Individuum eine getrennte Insel für sich wird und dann leiden wir alle - wie es heute in den modernen Gesellschaften der Fall ist - an der tödlichen Einsamkeit, der Krankheit des modernen Menschen. Im Islâm ist die Freiheit auch anders aufgefasst als im Westen; der Muslim erreicht den höchsten Grad der persönlichen Freiheit, wenn er sich vor der Macht seines Herrn niederwirft und seinen Befehlen folgt.
 
Im Islâm ist die Freiheit eine verantwortungsvolle Freiheit, die die göttliche Kontrolle verspürt und beachtet, der Wissenschaftler forscht im Namen Allâhs, er muss seine Vorschriften in Kenntnis nehmen, er  erkennt, dass er als Mensch, trotz aller wissenschaftlicher Fortschritte die menschliche Schwäche in sich trägt, ohne Gottes Sorge und Liebe kann er mit seinem Wissen sich selbst oder viele andere Mitmenschen ruinieren. Im Namen Allâhs haben die alten Wissenschaftler geforscht (Ibn-Sînâ/Avicenna, Averroes, Ibn Al-Haitham und Ibn An-Nafîs u.v.a.) und im Namen Allâhs forscht noch jeder islâmischer Forscher und wird es noch immer tun.
 
Im Folgenden behandeln wir aus islâmischer Sicht einige Themen der modernen Wissenschaften, die von Bedeutung sind und die häufig zur Diskussion kommen. Dabei interessiert uns vor allem, die Erscheinung an sich richtig zu verstehen - natürlich ohne sich in den Einzelheiten der spezialisierten Wissenschaftler zu verlieren -, die Meinung des Islâm zu diesen Fragen zu fassen und die logische Begründung zu führen, die hinter dieser Meinung steht.
 
Islâm und Moderne - Teil 12: Sittliche Verantwortung des Individuums

www.islamweb.net