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Claudia Sharifa Kreitl (Deutschland)

Claudia Sharifa Kreitl (Deutschland)

Warum ich Muslimin geworden bin?

Gerne denke ich nicht zurück an jenen Tag im Januar 1991, an dem ich mich entschloss, zum ersten Mal mit Kopftuch in die Schule zu gehen. Aber ich habe es getan, und ich danke Allâh, »dem einen, einzigen Gott«, für all die Erfahrungen, die ich seither sammeln konnte, die mein Leben sehr bereichert und mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin: eine selbstbewußte deutsche Muslimin, die sich weder nötigen lässt, ein Kopftuch zu tragen, noch es abzulegen.
Gerne denke ich nicht zurück an jenen Tag im Januar 1991, an dem ich mich entschloss, zum ersten Mal mit Kopftuch zur Schule zu gehen. Ich war da­mals 19 Jahre alt und einen Monat zuvor zum Islâm kon­vertiert. Die Kopfbedeckung war der letzte und schwierigste Teil meiner Ver­änderungen: Sie machte meine Entschei­dung nach außen deutlich und mich somit angreifbar. Aber sie war auch der Abschluss einer langen Reise, einer Suche nach Sinn und Wahrheit.
Ich wuchs in einem katholisch gepräg­ten Elternhaus auf. Religion hatte auf mich immer eine gewisse Anziehung aus­geübt. Ich lebte gut mit meinem Glauben, auch wenn in meinem Freundeskreis nie­mand meine Ansichten teilte. Die gängi­ge Meinung lautete: Die Evolutionstheo­rie hat bewiesen, dass alles durch Zufall entstand; Religion ist nur ein Mittel, die Menschen zu unterdrücken und zu mani­pulieren. Im Übrigen waren Glaubens­fragen für Jugendliche zwischen 14 und 17 kein Thema.
Je älter ich wurde, umso mehr stieß ich auf Menschen, die der Religion und vor allem dem katholischen Glauben ableh­nend gegenüber standen. Nichts von dem, was ich in diesen jungen Jahren zu jenen Themen aufschnappte, habe ich vergessen. Ich trug es immer einige Zeit mit mir herum, um es für mich persönlich zu klären.
Natürlich bestand mein Leben nicht nur aus Religion. Ich ging damals auf die Realschule, verbrachte den Großteil mei­ner Freizeit mit klassischem Ballett und erkannte auch, dass Jungs eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausübten. Doch die Probleme eines 16-jährigen Mädchens in Verbindung mit der Pflicht, Verantwortung für sein Leben zu über­nehmen, holten auch mich ein.
Dabei fiel mir eines Tages auf, dass ich mich schon länger nicht mehr mit Gott unterhalten hatte. Mein letztes Gebet war eine Weile her, und ich erinnerte mich, dass bei all den Dingen, für die ich zuletzt gebetet hatte, genau das Gegenteil einge­treten war. Vielleicht hatte ich mich ja doch getäuscht. Ich wollte wissen, ob sich an meinem Leben ohne Religion und oh­ne Gott etwas ändern würde und ent­schloss mich, den Glauben an einen Gott aufzugeben - um von da an ein aufgeklär­tes Leben als Erwachsener zu beginnen. Meine neue, atheistische Herangehens­weise an den Sinn des Lebens barg die ganze Zeit über nur eine Schwierigkeit: Mein Herz wollte nie wirklich daran glauben. Sooft ich meine gottlose Version des Seins auch wiederholte: Letztlich konnte mein Verstand mein Herz nicht über­zeugen.
Es gibt einen Gott - das stand für mich nun endgültig fest. Wer er ist, was er von mir will und die Antworten auf viele wei­tere Fragen waren unklar, aber es gibt ihn. Dass dem so war, fühlte ich tief in mir, wie eine Art Ur-Information im Erbgut. Mit dieser Überzeugung begann für mich die Suche nach der Wahrheit. Ich war be­reit, mich wieder aus dem gewohnten Terrain der Meinungen und Auffassungen herauszuwagen, um diese Frage für mich ein für alle Mal zu klären.
Zu diesem Zeitpunkt lernte ich Ercihan, einen jungen Türken, kennen. Er war eloquent, interessant und beschäftig­te sich ebenso wie ich viel mit Religionen und Philosophie. Wir schlugen uns die Stunden und Tage um die Ohren, disku­tierten und philosophierten bis spät in die Nacht, verliebten uns und wurden ein Paar. Im Gegensatz zu mir hatte Ercihan seine persönliche Religions-Recherche abgeschlossen und war zu der Erkenntnis gelangt, dass für ihn die wahre Religion der Islâm sei.
Anfangs hatte ich Zweifel: Ausgerechnet der Islâm sollte die Wahrheit sein?
Ausgerechnet der Islâm. Eine Religion, die mich als Frau aus dem Leben ver­bannt, mich hinter Tüchern verhüllt, mir alles verbietet, was mir lieb ist und mei­nem Mann erlaubt, mich zu schlagen? Diese Religion sollte die Wahrheit sein? Aus der Sicht eines Mannes vielleicht, aber sicher nicht für mich.
Ich war zwar religiös, aber ich war mir meiner Gleichwertigkeit einem Mann gegenüber durchaus sicher und liebte nichts so sehr wie meine Freiheit. Nie im Leben würde ich die Errungenschaften meiner westlichen Kultur eintauschen - schon gar nicht gegen steinzeitliche Ansichten, wie ich sie von Muslimen kannte.
18-jährig machte ich mich im Juli 1989 auf die Reise in die USA. Ich hatte be­schlossen, für ein Jahr in Kalifornien zur Schule zu gehen, um fließend Englisch zu lernen, neue Menschen zu treffen und meinem Lebenslauf einen interessanten Zusatz zu verleihen. Das Land der unbe­grenzten Möglichkeiten schien mir auch ein gutes Ziel, um mich auf meiner Wahr­heitssuche vielseitig zu informieren. Schließlich gibt es kaum ein Land, in dem so viele unterschiedliche Religionen, Kir­chen und Sekten zugange sind, wie in den Vereinigten Staaten.
Und tatsächlich traf ich in diesem Land auf Baptisten, Methodisten, Presbyteria­ner, Zeugen Jehovas, Mormonen, Juden, schiitische und sunnitische Muslime, Buddhisten, Hindus, Bahai und natürlich Konfessionslose. Ich traf auf Menschen, die dem Thema Religion viel Zeit widmeten und doch konfessionslos blieben, und ich traf auf Juden, Christen und Mus­lime, die praktisch vergessen hatten, einer Religion anzugehören.
Von all dem, was ich gelesen, gehört und erlebt hatte, lernte ich vor allem eines: Beurteile eine Religion nie nach dem, was ihre vermeintlichen Anhänger praktizieren. Denn nicht jeder Deutsche ist automatisch vorbildlicher Christ und nicht jeder Araber praktizierender Mus­lim. Das hieß für mich also auch, den Is­lâm nicht nach dem zu beurteilen, was ich bisher gehört und gesehen hatte.
Stattdessen wollte ich mich lieber aus erster Hand informieren und beschloss, ohne Vorbehalte den Qurân kennen zu lernen. Während der zwei Monate, die ich brauchte, um die heilige Schrift der Mus­lime mit Erläuterungen und Kommenta­ren zu lesen, war ich immer wieder er­staunt: Viele meiner eigenen Prinzipien und Vorstellungen fand ich entgegen mei­nen Erwartungen im Islâm wieder. Diese Religion hat nichts Abstraktes, kennt kei­ne komplizierten Rituale. Jeder Muslim ist angehalten die direkte Beziehung zwischen sich und Gott zu pflegen, und es be­steht keine Hierarchie der Geistlichkeit.
Der Islâm betrachtet mich und meine Natur gesamtheitlich, fordert weder Askese noch Übertreibung. Vor allem aber beeindruckte mich das Gleichgewicht, das diese Reli­gion zwischen dem Individuum und der Gesellschaft herstellt. Die Individualität fällt dem sozialen Kollektiv nicht zum Opfer. Dennoch weckt der Islâm den Sinn für soziale Verantwortlichkeit und hält den Einzelnen dazu an, seinen Teil zum gesellschaftlichen Wohl beizutragen. In dem Bewusstsein, die Wahrheit gefunden zu haben, fühlte ich mich wie neu geboren. Der Qurân war also die letzte Schrift einer göttlichen Offenbarungsreihe, und Muhammad, wie Moses und Jesus  Frieden sei auf ihnen ), war der Überbringer dieser Bot­schaft an die Menschen. Ich trat aus der Kirche aus und bezeugte im Dezember 1990, dass es keinen Gott gibt außer dem einen Gott und dass Muhammad  möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken sein Gesandter ist.
Es ist eine islâmische Tradition, dass Gläubige einen Namen mit schöner Be­deutung tragen. Daher fügte der Imam, der Vorsteher der Moschee, meinem Na­men Claudia den islâmischen Namen Sharifa hinzu, was »die Sanfte« oder »die Rechtschaffene« bedeutet.
Von da an gab es einige praktische Veränderungen in meinem Leben. Ich be­gann mit den täglichen Gebeten, fastete im Ramadan, zahlte meine Abgabe an die Armen und nutzte die Zeit der Weihnachtsferien, um mir einen neuen Kleidungsstil anzueignen. Das war nicht einfach, bestand mein bisheriges Outfit doch meist aus Jeans, T-Shirt und Turnschuhen. Ab sofort zog ich weite Hosen an, lange Hemden, und ab und zu überwand ich mich sogar, auch mal einen Rock oder ein Kleid zu tragen.
Und ich trug meine Kopfbedeckung: ein schwarzes Samtmützchen und darüber ein schwarzes Tuch gewickelt. Jetzt galt es auch, vor meiner Familie und meinen Freunden Farbe zu bekennen. Jenen Montagmorgen werde ich nie vergessen. Ich packte meine Schulsachen, band mein Tuch und ging die Treppe hinunter. Mei­ne Eltern saßen am Frühstückstisch.
Wie jeden Morgen ging ich am Tisch vorbei, ohne mich zu setzen und etwas zu essen. Meine Mutter sah mir nach, stutzte und sagte: »Du willst doch nicht etwa so in die Schule gehen?« Mein Vater blick­te mich ein wenig ungläubig an. überließ es aber meiner Mutter, das, was er sah und selbst nicht verstand, etwas genauer zu durchleuchten. Sie wusste von meinem Interesse für den Islâm, und ich erklärte ihr, dass ich versuchen wolle, diese Reli­gion als Ganzes zu praktizieren.
Ich ging aus dem Haus, und nun begann eine Art Spießrutenlauf. Freunde, Nach­barn. Lehrer und sogar der Rektor der Schule wollten ausführlich erklärt haben, was es mit meiner neuen Bekleidung auf sich habe. Meine Mutter war wohl ent­täuscht, hatte sie mir doch die christlichen Werte ans Herz gelegt. Mein älterer Bru­der zeigte mir nur den Vogel.
Es war in der Tat um einiges schwie­riger und hatte weitreichendere so­ziale Folgen, als ich es je vermutet hätte. Es zeigte sich schnell, wem es nun eher unangenehm war, sich mit mir in ein Cafe zu setzen oder mich gar als Freundin zu bezeichnen. Meine Eltern waren in erster Linie besorgt. Wer könn­te ihnen das auch verdenken? Schließlich hört man über keine Religion so viel Schlechtes wie über den Islâm. Und der Gedanke daran, dass ich vielleicht einmal einen muslimischen Mann heiraten könnte, verschlimmerte ihre Sorgen nur. Es ist bestimmt alles nur eine Phase, die vorübergehen wird - darin war sich mei­ne Familie einig.
Das ist nun 13 Jahre her. Heute weiß ich, dass Sharifa immer noch auch Clau­dia ist, dass meine Persönlichkeit, mein Wesen und meine Werte sich im Grunde nicht geändert haben. Auch meine Fami­lie und Freunde wissen das.
Seit damals habe ich mein Abitur ge­macht, Biologie studiert und eine jour­nalistische Ausbildung absolviert. Heute arbeite ich als freie Journalistin und bin mit meinem Leben zufrieden. Aber es hat viele Jahre gedauert, bis ich meine eigene, deutsche Identität mit der islâmischen verknüpfen konnte. Eine Zeit lang trug ich geborgte pakistanische oder arabi­sche Kleidung und übernahm Ansichten und Traditionen islâmischer Nationalitä­ten. Heute habe ich wieder meine eige­nen Vorstellungen und Anziehsachen. Meine Jeans, T-Shirts und Turnschuhe be­stimmen wieder den Kleiderschrank und obendrein eine beträchtliche Tüchersammlung.
Es gibt Momente, besonders im Som­mer, in denen das Tuch wahrlich zu einer Geduldsprüfung werden kann. Aber es ist meiner islâmischen Auffassung nach Teil der Bekleidung einer muslimischen Frau. Nicht der radikalen Eiferin und auch nicht der traditionellen Frau ausländlicher Gegend, sondern der ganz ge­wöhnlichen muslimischen Frau. So selbst­verständlich und normal, wie eine Nonne ihr Gewand trägt, so selbstverständlich ist auch mein Tuch fester Bestandteil meiner Kleidung.
»Es gab Vorfälle, die mir den Mut nahmen, meinen Glauben zu zeigen«
Es war ein weiter und steiniger Weg, und es gab viele Vorfälle, die mir zeitweise den Mut geraubt hatten, meinen Glau­ben offen zu zeigen. Da war das Prak­tikum in einer Werkstatt, wo man mich versehentlich zur Putzkammer lotste - bis man mir glaubte, dass ich die neue Praktikantin war.
Und da sind die Beifahrerinnen im Au­to vor mir, die auf Geheiß des Fahrers un­auffällig die Sonnenblende herunterklap­pen und versuchen, mich im Spiegel zu er­spähen. Manche machen sich die Mühe auch gar nicht, reißen sich kurzum aus dem Sitz, blicken aus dem Rückfenster und gaffen mich an, als hätten sie noch nie eine »betuchte« Frau am Steuer eines Geländewagens gesehen. Vielleicht ha­ben sie das ja tatsächlich noch nicht.
Hundertmal höre ich im Sommer, wie einer zum anderen in meiner Gegenwart (aber nicht zu mir) sagt: »Ist ganz schön kalt heute, was?« Während Männer dazu tendieren, sich über das Tuch lustig zu machen, neigen Frauen eher zu Boshaf­tigkeit. Doch derartige Äußerungen haben im Laufe der Jahre abgenommen. Weil ich nicht mehr auf sie achte und weil junge Frauen mit Kopftuch mittlerweile zum Bild der Stadt gehören. Auf Intoleranz bin ich auch auf Seiten der Muslime gestoßen. In den Augen vie­ler Glaubensbrüder und -Schwestern ist man als Deutsche eben doch kein ganzer Muslim. Man hat keine islâmische Erzie­hung genossen und darüber hinaus keine Ahnung von den Traditionen.
Der Islâm ist lediglich ein Gerüst. Wie und womit man es bespannt, bleibt jedem selbst überlassen. Dadurch bietet diese Religion ausreichend Platz für vielfältige Kulturen und Traditionen. Dabei wissen viele Muslime oft selbst nicht, wo das Gerüst endet und der individuelle Teil ih­res Lebens beginnt. So werden die unter­schiedlichsten Traditionen der jeweiligen Kulturen kurzerhand zu Bestandteilen der Religion. Diese werden dann häufig als Komplettpaket weitergegeben. Dem­entsprechend erstaunt war ich dann auch, als mir eine türkische Familie dazu gratu­lierte, nach meinem Übertritt zum Islâm »Türkin« geworden zu sein.
Die Anfangszeit nagte oft schwer an meinem Selbstbewusstsein und meiner Kraft. Die einen stört das Kopftuch, den anderen ist die Jeans zu eng. Doch mitt­lerweile halte ich das aus. Denn ein Le­ben ohne den Glauben an die islâmische Lehre ist für mich inzwischen unvorstell­bar. Ich habe meinen eigenen deutsch-islâmischen Weg gefunden, bin gegen den Strom geschwommen und trotzdem nicht untergegangen.

Ich habe viel gelernt über den Islâm, seine unterschiedlichen Ausprägungen, über Toleranz, Arroganz und Ignoranz. Ich sehe meinen Bruder, der mich damals für verrückt erklärte, und der heute als streng praktizierender Mormone lebt. Und ich sehe meine einstigen Freunde, wie sie Weihnachten in die Kirche pil­gern, aber noch nie eine Bibel in den Händen gehalten haben.

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