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Die Grundkonzepte im Islâm - Teil 4

Die Grundkonzepte im Islâm - Teil 4

Das Sündenkonzept

 

Einer der schwierigsten Bereiche des menschlichen Daseins ist das Problem der Sünden oder des Bösen auf der Welt. Üblicherweise wird angenommen, dass das Sündigen zur Lebenszeit Adams und Evas im Garten Eden begann. Dieses Ereignis führte zum Sündenfall und brandmarkte seither das Menschengeschlecht mit Schuld, Makel und Bestürzung.

 

Der Islâm vertritt in dieser Angelegenheit einen einzigartigen Standpunkt, der von keiner anderen uns bekannten Religion geteilt wird. Der Qurân besagt, dass Adam und Eva von Gott dazu angewiesen wurden im Garten Eden zu verweilen, dessen Erzeugnisse nach Belieben zu genießen und sich großzügiger Versorgung und Behaglichkeit sicher zu sein. Allerdings wurden sie davor gewarnt, sich einem bestimmten Baum zu nähern, um nicht in Unheil und Unrecht zu verfallen. Der Satan zog sie dann in den Bann der Versuchung und bewirkte, dass sie ihren freudvollen Zustand verloren. Sie wurden des Gartens verwiesen und zur Erde hinuntergebracht, um zu leben, zu sterben, und schließlich für das Letzte Gericht wieder hervorgebracht zu werden. Nachdem ihnen klar geworden war, was sie getan hatten, schämten sie sich, fühlten sich schuldig und bereuten es. Sie baten Gott um Gnade und ihnen wurde vergeben. (Sûra 2:35-38; 7:19-25; 20:117-123).

 

Dieses symbolbehaftete Ereignis ist sehr aufschlussreich. Es besagt, dass der Mensch unvollkommen ist und immerzu begehrt, selbst wenn er im Paradies leben würde. Das Begehen einer Sünde oder eines Fehlers, wie es Adam und Eva taten, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass es das menschliche Herz abstumpfen lässt, spirituelle Neugestaltung verhindert oder moralische Höherentwicklung bremst. Vielmehr besitzt der Mensch ausreichend Empfindungsvermögen, um seine Sünden und Unzulänglichkeiten zu erkennen. Wichtiger noch: Er kann erkennen, wohin und an wen er sich zur Orientierung wenden sollte. Wesentlich wichtiger ist die Tatsache, dass Gott immerzu bereit ist, die aufrichtigen Rufe derjenigen, die Seine Hilfe ersuchen, zu erwidern. Er ist so gnädig und barmherzig, dass Seine Vergebung umfangreich und Seine Barmherzigkeit allumfassend ist (Sûra 7:156). Eine letzte aufschlussreiche Interpretation des Ereignisses besagt, dass dem Islâm Diskriminierung auf Grund des Geschlechts sowie Erbschuld oder Erbsünde fremd sind.

 

Das Konzept der Erbsünde oder vererbter Schuld hat keinen Platz in den Lehren des Islâm. Der Mensch wird laut Qurân (Sûra 30:30) und dem Propheten in einem natürlichen Zustand der Reinheit oder „Fitra“ geboren, sprich im Islam oder in der Ergebung in Gottes Willen und Gesetz. Was aus dem Menschen nach dessen Geburt wird, ist das Ergebnis äußerer Einflüsse und sich aufdrängender Faktoren. Um die Angelegenheit mit modernen Denkansätzen zu konkretisieren: Die menschliche Natur ist formbar und der Sozialisierungsprozess - insbesondere das häusliche Umfeld - ist entscheidend. Er spielt bei der Bildung der menschlichen Persönlichkeit und der Entwicklung eines tugendhaften Charakters eine entscheidende Rolle. Dennoch erkennt er der Einzelperson nicht die Entscheidungsfreiheit ab und befreit ihn nicht von seiner Verantwortung. Vielmehr stellt er eine Befreiung von der schweren Last der Erbschuld oder der instinktiven Versündigung dar. 


 
Gott ist laut Definition gerecht, weise, barmherzig, gnädig und vollkommen. Er erschafft den Menschen, indem Er ihm von Seinem eigenen Geist einhaucht (Sûra 15:29; 32:9; 66:12). Da Gott der absolut grenzenlos Gütige ist und Sein Geist absolut vollkommen und da der Mensch mittels Schöpfung etwas vom Geist Gottes erhält, behält er zwangsläufig zumindest einen Teil dieses guten Geistes des Schöpfers. Dieser könnte der Grund für die guten Veranlagungen des Menschen und für dessen Verlangen nach Spiritualität sein. Andererseits erschafft Gott den Menschen, damit dieser Ihm dient, und nicht, damit er Sein Gleichgestellter, Nebenbuhler, die perfekte Verkörperung oder der absolute Inbegriff Seiner Güte ist. Dies bedeutet, dass unabhängig davon, wie gut oder perfekt ein Mensch durch die Schöpfungsgnade auch ist, er immer noch weit von der Güte und Vollkommenheit des Schöpfers entfernt bleibt. Der Mensch ist zwar sicherlich nicht völlig bar derartiger Fähigkeiten. Diese sind jedoch begrenzt und der endlichen Veranlagung, Belastbarkeit und Verantwortlichkeit des Menschen angemessen. Dies könnte die Unvollkommenheit und Fehlbarkeit des Menschen erklären.

 

Allerdings sind Unvollkommenheit und Fehlbarkeit nicht das Äquivalent von Sünde oder gleichbedeutend mit Straffälligkeit – zumindest nicht im Islam. Wenn auch der Mensch unvollkommen ist, so wird er von Gott nicht hilflos oder allein gelassen, sodass er seinen Unzulänglichkeiten zum Opfer fällt. Er wird durch Offenbarungen ermächtigt, durch Vernunft unterstützt, durch die Entscheidungsfreiheit bekräftigt und durch verschiedene soziale und psychische Veranlagungen dazu geführt, relative Vollkommenheit anzustreben und zu erlangen. Die ständige Anziehung zwischen den Kräften des Guten und des Bösen stellt den Kampf des Lebens dar. Sie bietet dem Menschen etwas, dem er freudig entgegensehen kann, Ideale, die er anstreben kann, Arbeit, die er verrichten kann, und eine Rollen, die er übernehmen kann. Sie macht sein Leben interessant und bedeutungsvoll, nicht monoton und stagnierend. Zum anderen gefällt es Gott, Seine anbetend Dienenden in einem Zustand des spirituellen und moralischen Erfolgs zu sehen.

 

Gemäß den islâmischen Moralmaßstäben ist es keine Sünde für den Menschen, unvollkommen oder fehlbar zu sein. Dies ist Teil seiner Veranlagung als endliches und begrenztes Geschöpf. Allerdings ist es eine Sünde, die Wege und Mittel zur Erlangung relativer Vollkommenheit zu besitzen und sich zu entschließen, diese nicht anzustreben. Eine Sünde ist jeder Handlungsakt, Gedanke oder Wille, der (1) beabsichtigt ist, (2) gegen das unmissverständliche Gesetz Gottes verstößt, (3) das Recht Gottes oder das Recht des Menschen verletzt, (4) der Seele oder dem Körper schadet, (5) wiederholt begangen wird und (6) im Normalfall vermeidbar ist. Dies sind die Komponenten der nicht angeborenen oder nicht vererbten Sünde. Allerdings ist es wahr, dass der Mensch die potenzielle Fähigkeit zum Sündigen in sich trägt; diese ist jedoch nicht größer als seine Fähigkeit zu Frömmigkeit und Güte. Entschließt er sich dazu, das Potenzial zur Sünde an Stelle des Potenzials zur Güte zu verwirklichen, so ergänzt er seine reine Veranlagung mit einem neuen externen Element. Für dieses ergänzte externe Element ist der Mensch allein verantwortlich.

 

Im Islâm gibt es große und kleine Sünden sowie Sünden gegen Gott und Sünden sowohl gegen Gott und als auch gegen den Menschen. Alle Sünden gegen Gott - außer einer – sind vergebbar, wenn der Sündige sich aufrichtig um Vergebung bemüht. Der Qurân besagt, dass Gott die Sünde des „Schirk“ (Polytheismus, Pantheismus, Trinität usw.) wahrhaftig nicht vergibt. Er vergibt jedoch Sünden außer dieser und verzeiht, wem Er will. Kehrt der Polytheist oder Atheist jedoch zu Gott zurück, so wird ihm seine Sünde vergeben. Sünden gegen Menschen sind nur dann vergebbar, wenn der Betroffene dem Sünder verzeiht oder wenn die rechtmäßigen Entschädigungen und/oder Strafen erbracht oder vollzogen werden.

 

Abschließend lässt sich sagen, dass Sünden erworben werden und nicht angeboren sind, entstehen und nicht eigen sind sowie vermeidbar und nicht unabwendbar sind. Sie sind ein absichtlicher, bewusster Verstoß gegen Gottes unmissverständliches Gesetz. Wenn der Mensch etwas tut, was wirklich durch natürliche Instinkte oder absolut unwiderstehliche Triebe und unkontrollierbares Verlangen ausgelöst wird, stellt diese Handlung im Islâm keine Sünde dar. Ansonsten wäre Gottes Zweck sinnlos und die Verantwortlichkeit des Menschen umsonst. Gott verlangt vom Menschen nur das, was innerhalb dessen Möglichkeiten und Einflussbereichs liegt.


Die Grundkonzepte im Islâm - Teil 3
Die Grundkonzepte im Islâm - Teil 5

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