Einführung in die Qurânwissenschaften - Teil 2: Bewahrung der Qurânoffenbarung zwischen Rezitation und Aufzeichnung

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Bewahrung der Offenbarung

 

Alle großen Religionen der Erde gründen sich auf bestimmte heilige Bücher, die oft göttlicher Offenbarung zugeschrieben sind. Es wäre selbstverständlich entsetzlich, wenn der ursprüngliche Wortlaut der Offenbarung beispielsweise durch ein Unglück verloren ginge. Der Ersatz würde ja dann nicht vollkommen mit dem Verlorenen übereinstimmen.

 
Trotzdem oder gerade deswegen darf bzw. soll man dabei einige Fragen stellen, wie z.B.:
 
- Wer hat die heiligen Bücher von Generation zu Generation weitergegeben? Und wie geschah dies?
 
- Was lässt eigentlich Menschen glauben, dass diese Bücher Worte Allâhs enthalten?
 
- Wer hat diese Bücher geschrieben?
 
- Besteht das Original noch, oder gibt es bloß dessen Übersetzung?
 
- Gibt es keine inneren Widersprüche?
 
- Sind nicht irgendwelche Kapitel verloren gegangen, auf die andere Kapitel Bezug nehmen? Und so weiter.
 
Der Qurân, das Heilige Buch des Islâm, wurde als die letzte und umfassendste sowie endgültige Form des göttlichen Willens offenbart.
 
Der Zweck der Botschaft Allâhs im Qurân liegt hauptsächlich in der Rechtleitung und im Wohlleben der Menschheit im Diesseits und Jenseits. Diese Botschaft ist klar, deutlich, vollkommen und an alle Menschen gerichtet.
 
Der Gesandte Allâhs, Muhammad hat diese göttliche Offenbarung den Menschen in vollem Wortlaut und ohne jedes menschliche Element darin vermittelt. Diese letzte Offenbarung der Botschaft Allâhs an die Menschheit ist ohne jedes Verfälschen, Hinzufügen oder Weglassen in der ursprünglichen Form im Qurân bis zum heutigen Tag enthalten.
 
Der Qurân geht auf ein im Himmel aufbewahrtes Urexemplar (Umm Al-Kitâb) „die Mutter des Buches“ d.h. „Urschrift des Buches“ und auf „eine im Himmel wohlbewahrte Tafel“ (Al-lauh Al-mahfûz) zurück. Man möge hier die folgenden Verse vergleichen:
 
„Ha-Mim. Bei dem deutlichen Buch! Wir haben es ja zu einem arabischen Qur'an gemacht, auf dass ihr begreifen möget; und gewiss, er ist in der Urschrift des Buches bei Uns wahrlich erhaben und weise.“ (Sûra 43:1-4)
 
Das Wort „Urschrift des Buches“ bedeutet: „das bei Gott aufbewahrte seit Ewigkeit existierende Original des Qurâns“.
 
„Nein! Vielmehr ist es ein ruhmvoller Qur'an auf einer wohlbehüteten Tafel.“ (Sûra 85:21-22)
 
Auch hier ist die Erklärung dafür als „der Prototyp des Qurân im Himmel“ zu verstehen.
 
Der Qurân wurde dem Propheten Muhammad ) in der Zeit von 610-632 nach und nach offenbart. Die Offenbarung dauerte also dreiundzwanzig Jahre an: dreizehn Jahre in Makka und zehn Jahre in Madîna. Diese Offenbarung erfolgte in arabischer Sprache und wurde durch den Engel Gabriel übermittelt. Alle Offenbarungen bestanden entweder aus einem vollständigen längeren oder kürzeren Kapitel oder, zu anderen Malen, nur aus einer bestimmten Anzahl von Versen. Genau im Sinn und genau im Wort wurden uns die Offenbarungen mündlich wie schriftlich durch zahlreiche Personen überliefert. Diese Offenbarungen sind im Qurân enthalten, unnachahmlich und einzigartig und vor Veränderung bewahrt.
 
Der Qurân bedeutet wörtlich - wie erwähnt - das „Vorzutragende“. Er ist daher nicht bloß auf den schriftlich festgehaltenen Text beschränkt. Der Qurân schließt gleichberechtigt bzw. vorrangig das mündliche Vortragen oftmals aus dem Gedächtnis mit ein. Viele Prophetengefährten haben den Qurân im Gedächtnis bewahrt und mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Abertausende haben auch zu Lebzeiten des Propheten den Text niedergeschrieben, Buchstabe um Buchstabe, Satz um Satz. Als der Prophet im Jahre 632 verstarb, lag der Qurân in Wortlaut, Anordnung und Niederschrift abgeschlossen vor.
 
Wie kann nun der menschliche Verstand nachvollziehen, dass die letzten Offenbarungen Allâhs in der ursprünglichen Form im Qurân bis zum heutigen Tag enthalten und so bewahrt sind?
 
Menschliche Mittel zur Bewahrung der Offenbarung
 
Zur Zeit der Entstehung der großen Religionen hatte der Mensch nicht nur sein Gedächtnis, sondern auch schon die Schrift, um etwas zu übermitteln. Durch die beiden menschlichen Möglichkeiten konnte man von jeher auch die Gedanken festhalten.
 
Es ist festgestellt, dass die Araber besonders in der (vor)islâmischen Zeit über ein eisernes Gedächtnis verfügten. Ihr literarisches Erbe bzw. ihre Kultur gründete sich hauptsächlich auf der Lyrik, denn es war den Leuten in dieser Region zueigen, alle Geschehen, Ereignisse, Erlebnisse, Gedanken, Vorstellungen und Geschichten in poetischen Formen auswendig zu lernen, und zwar wegen des metrischen, rhythmischen und gereimten Charakters der Lyrik.
 
Daher wurde und wird noch zu Recht gesagt:
 
Auch die Schrift im Arabien des späteren siebten Jahrhunderts war üblich. Es liegt eine Reihe von Inschriften vor, die deutlich älter sind als der Qurân und die die Verbreitung der Schrift im vorislâmischen Arabien belegen. Auch der Qurân selbst enthält deutliche Referenzen auf die Insignien der Schrift (etwa der Schwur bei der Schreibfeder am Anfang der 68. Sûra), die zu jener Zeit präsent gewesen sein müssen.
 
Es könnte jedoch gesagt werden: Die Schrift ist dauerhafter als das Gedächtnis des Einzelnen, denn das Gedächtnis erlischt ja mit dem Leben des sterblichen Menschen.
 
Für sich allein genommen ist aber weder die eine noch die andere dieser beiden Übermittlungsmöglichkeiten unfehlbar.
 
Das Gedächtnis kann ja versagen: Wer berufs- oder gewohnheitsbedingt etwas auswendig lernt, um das Gelernte vorzutragen und später zu wiederholen, wird gelegentlich feststellen, dass das Gedächtnis versagt. Das kommt öfter vor, besonders wenn es sich um lange Stücke handelt. Man überspringt Sätze, verwechselt die einen mit den anderen oder erinnert sich an manche überhaupt nicht. Der richtige Wortlaut bleibt oft im Unterbewusstsein. Er kann vielleicht zu einer späteren Zeit von neuem zu Tage treten. Das passiert durch einfache Auffrischung des Gedächtnisses, durch die Hilfe eines Souffleurs oder durch Hinzuziehung eines geschriebenen Textes usw.
 
Auf der anderen Seite lehrt uns die tägliche Erfahrung Folgendes:
 
Wenn jemand etwas schreibt und dann das Geschriebene aus dem Gedächtnis liest, kann er eine mehr oder weniger große Zahl von unfreiwilligen Fehlern finden, wie: Auslassung von Buchstaben oder gar Wörtern, Wiederholungen, Verwechselungen eines Wortes mit einem anderen, grammatische Fehler usw. Zu erwähnen dabei sind auch die Meinungsänderungen des Verfassers, der seinen Stil, seine Gedanken und/oder seine Begründungen verbessert. Er löscht manchmal alles Geschriebene aus und beginnt mit einem neuen Wortlaut von neuem.
 

Der Prophet Muhammad hat sich von Anfang an beider Methoden bedient, von denen die eine der anderen zur Hilfe kommt. Er wollte die Unversehrtheit des Heiligen Qurân erhalten und die Möglichkeit zu Irrtümern auf Null beschränken, wie wir sehen werden.

 

Einführung in die Qurânwissenschaften - Teil 1: Definitionen und notwendige Begrenzung

Einführung in die Qurânwissenschaften - Teil 3: Auswendiglernen als mündliche Bewahrung

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