Islâmische Lebensweise - Teil 6: Die ethische Wertordnung im Islâm

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Die ethische Wertordnung im Islâm

 
Der Sinn für ethische Werte ist dem Menschen angeboren. Er hat dem Durchschnittsmenschen von jeher als Maßstab für sittliches Verhalten gedient, nach dem gewisse Eigenschaften als gut anerkannt, andere mißbilligt wurden. Während diese instinktive Fähigkeit von Mensch zu Mensch verschieden sein kann, vertritt das menschliche Gewissen einen mehr oder weniger einheitlichen Standpunkt bezüglich bestimmter moralischer Qualitäten, die als gut und bestimmter anderer, die als schlecht zu erachten sind. Was die moralischen Tugenden betrifft, so haben Gerechtigkeit, Mut, Tapferkeit und Wahrhaftigkeit stets Lob hervorgerufen und die Geschichte hat keine nennenswerte Zeitspanne zu verzeichnen, in der Falschheit, Ungerechtigkeit, Unehrlichkeit und Vertrauensbruch hochgehalten worden wären. Stets wurden Mitgefühl, Mitleid, Treue und Großmut geschätzt, während Selbstsucht, Grausamkeit, Geiz und Bigotterie nie den Beifall der menschlichen Gesellschaft fanden.
 
Die Menschen zollten Standhaftigkeit, Entschlossenheit und Mut schon immer Anerkennung, Ungeduld, Wankelmut, Feigheit und Dummheit dagegen wurden noch nie gebilligt. Würde, Beherrschung, Höflichkeit und Freundlichkeit wurden zu allen Zeiten zu den Tugenden gezählt, während Anmaßung, schlechtes Benehmen und Grobheit nie unter die guten moralischen Eigenschaften eingereiht worden sind. Stets waren es verantwortungsbewusste, pflichtgetreue Menschen, denen höchste Achtung zuteil wurde. Nie betrachtete man Unfähige, Träge und solche, die es an Pflichtgefühl mangeln ließen, mit Wohlwollen.
 
 Gleicherweise war die Auffassung bezüglich des Maßstabs für gut und schlecht im kollektiven Verhalten der Gesellsehaft als Ganzes stets einmütig. Nur die Gesellschaft, die die Tugenden der Ordnungsliebe, der Disziplin, der gegenseitigen Zuneigung und des Mitgefühls besitzt und eine auf Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit der Menschen basierende Gesellschaftsordnung errichtete, wurde als der Ehre und Achtung würdig angesehen. Im Gegensatz dazu wurden Desorganisation, Unordnung, Anarchie, Uneinigkeit, Ungerechtigkeit und soziale Ungleichheit immer als Zeichen des Verfalls und der Desintegration in einer Gesellschaft betrachtet. Raub, Mord, Diebstahl, Ehebruch, Betrug und Korruption wurden stets verurteilt.
 
Verleumdung, Klatschsucht und Erpressung wurden nie als nützliche gesellschaftliche Betätigung angesehen. Umgekehrt sind der Dienst an und die Pflege von Betagten, Treue zu Freunden, Beistand für die Schwachen, Mittellosen und Waisen und Fürsorge für die Kranken Tugenden, die von Anbeginn der Zivilisation an stets hoch geschätzt wurden. Anständige, höfliche, sanftmütige und aufrichtige Menschen waren immer und überall willkommen, ebenso wie jene, die rechtschaffen, ehrlich, pflichtbewusst und zuverlässig waren, deren Taten in Einklang mit ihren Worten standen.
 
Diejenigen, die sich mit ihrem eigenen, rechtmäßigen Besitz zufriedengaben und in der Erfüllung ihrer Verpflichtungen anderen gegenüber prompt waren, die in Frieden lebten und andere in Frieden leben ließen, und von denen man nur Gutes erwarten konnte, bildeten von jeher den Kern jeder gesunden menschlichen Gesellschaft.
 
Dies macht deutlich, dass menschliche Moralmaßstäbe tatsächlich allgemeingültig sind und der Menschheit zu allen Zeiten wohl vertraut waren. Gut und böse sind keine Mythen, die aufgestöbert werden müssten, sie sind bekannte Wirklichkeiten und werden von allen gleichermaßen verstanden. Das Gefühl für gut und böse ist schon im Wesen des Menschen verankert. Deshalb wird in der qurânischen Terminologie die Tugend als “Ma‘rûf” (etwas Wohlbekanntes) und das Übel als Munkar (etwas Unbekanntes) bezeichnet, das heißt, dass die Tugend als etwas für jeden Wünschenswertes gilt, und dass das Übel nicht dafür bekannt ist, sich auf irgendeine Art als wünschenswert erwiesen zu haben.
 
Diese Tatsache wird im Qurân erwähnt, wenn es heißt:
 
“Er gewährte der Seele den Sinn für das, was für sie unrecht und was für sie recht ist.” (Sûra 91:8)
 
Warum Unterschiede?
 
Die Frage, die jetzt auftaucht, lautet: wenn die grundlegenden Werte des Guten und Bösen so bekannt waren und es darüber praktisch ein allgemeingültiges Übereinkommen gab, warum existieren dann in dieser Welt unterschiedliche ethische Verhaltensweisen?
 
Warum widersprechen gewisse ethische Maßstäbe einander? Wo ist der Ursprung für diese Unterschiede zu suchen? Welche einzigartige Stellung nimmt der Islâm im Zusammenhang mit den vorherrschenden ethischen Wertvorstellungen ein? Aus welchen Gründen können wir behaupten, der Islâm besitze eine vollkommene ethische Wertordnung? Und was genau ist der bedeutende Beitrag des Islâm auf dem Gebiet der Ethik?
 
Diese Fragen sind wichtig und man muß sie ehrlich anpacken. Aber innerhalb des Rahmens dieser kurzen Abhandlung lassen sie sich nicht erschöpfend beantworten.
 
Hier sollen nur kurz gefasst einige der wichtigsten Punkte herausgegriffen werden, die uns schon gleich zu Beginn ins Auge springen, wenn wir die zeitgenössischen ethischen Wertordnungen und nicht miteinander übereinstimmenden moralischen Verhaltensweisen einer Prüfung unterziehen.
 
a) Den gegenwärtigen ethischen Wertordnungen gelingt es nicht, verschiedene moralische Tugenden und Normen zu integrieren, indem sie ihnen gewisse Grenzen setzen, ihnen einen bestimmten Nutzen zuschreiben und ihnen ihren eigenen Platz zuordnen. Aus diesem Grund sind sie nicht in der Lage, ein ausgewogenes und zusammenhängendes Konzept für gesellschaftliches Verhalten zu erstellen.
 
b) Die wahre Ursache ihrer Unterschiede scheint darin zu liegen, dass die ethischen Wertvorstellungen verschiedene Maßstäbe für gute und schlechte Taten setzen und voneinander abweichende Mittel zur Unterscheidung von Gut und Böse heranziehen. Es gibt auch Unterschiede in Bezug auf die Sanktion hinter dem Moralgesetz und bezüglich der Motive, die einen Menschen bewegen, es zu befolgen.
 
c) Durch eingehendes Nachdenken erkennen wir, dass die Gründe für diese Unterschiede aus den unvereinbaren Ansichten und Vorstellungen der einzelnen Völker über das Universum, die Stellung des Menschen darin und den Zweck des menschlichen Daseins auf Erden hervorgehen. Mannigfaltige Theorien über Ethik, Philosophie und Religion sind nichts anderes als ein Spiegelbild der ungeheuren Abweichungen in den Anschauungen der Menschheit über diese äußerst wichtigen Fragen, wie beispielsweise diese:
 
Gibt es einen Gott und einen Beherrscher des Kosmos, und wenn ja, ist es Einer oder gibt es viele Götter? Welches sind die göttlichen Eigenschaften? Was sind die Merkmale der Beziehung zwischen Gott und den Menschen? Hat Er irgendwelche Vorkehrungen getroffen, um die Menschheit durch den Irrgarten des Lebens zu führen oder nicht? Ist der Mensch Ihm gegenüber verantwortlich oder nicht? Wenn ja, wofür ist er dann vor Ihm verantwortlich? Was ist der letztliche Sinn der Erschaffung des Menschen, den er sein ganzes Leben lang nicht aus den Augen verlieren sollte?
 
Die Antworten zu diesen Fragen werden die Lebensweise, die Moralphilosophie und die ethische Verhaltensweise des einzelnen und der Gesellschaft bestimmen.
 
In dieser kurzen Abhandlung ist es schwierig für mich, die in der Welt vorherrschenden ethisch fundierten Weltanschauungen aufzuzählen und auf die Lösungen hinzuweisen, die jede von ihnen auf diese Fragen vorschlägt, sowie den Einfluss dieser Antworten auf die moralische Entwicklung der an diese Vorstellungen glaubenden Gesellschaft aufzuzeigen. Ich kann mich hier lediglich auf die islâmische Auffassung beschränken und diese werde ich eingehend zu erläutern suchen.
 

 

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