Islâm und Moderne - Teil 7: Ganzheitlichkeit der islâmischen Wertordnung

4064 2501

Ganzheitlichkeit der islâmischen Wertordnung

 
Die islâmische Ganzheitlichkeit verbindet Diesseits mit Jenseits, göttliche Anordnung mit den Errungenschaften des menschlichen Verstandes, Wissenschaft mit dem Glauben, Seelisches mit Materiellem, Weltliches mit Religiösem, Denken mit Überlieferung in einer erstaunlichen Harmonie. Dieses Spezifikum kann entsprechend dargestellt werden, wenn man auf die Einzelheiten der islâmischen Religion im Glauben, Gottesdienst, Rechtswesen, Moral, Handlungen u. dgl. eingehen, was in diesem Zusammenhang unmöglich ist. Dennoch führen wir hier das Zeugnis eines muslimischen Europäers, der die christliche sowie die islâmische Wertordnung von nahem beobachten konnte:
 
Selbst  für den Gläubigen Christen gehören „das Erhabene“ und das „Irdische” verschiedenen Dimensionen  an, und durch eine Vermischung der  beiden wird er beunruhigt. Der Islâm erkennt diese Unterscheidung nicht an. Für den Muslim sind sein Gottesdienst und seine Art, mit körperlichen Funktionen umzugehen, sein Streben nach Heiligigkeit und sein Handeln  auf  dem Markt, seine Arbeit und seine Mußestunden nur Elemente in einem unteilbaren Ganzen, das , wie die Schöpfung selbst, keine Spaltungen zulässt. Ein einziger Schlüssel öffnet die einzige Tür zu der integrierten und  festgefügten Welt des Muslims. Dieser Schlüssel  ist die Bejahung der göttlichen Einheit und alles dessen, was aus dieser Anerkenntnis folgt, bis hin zu ihrem entferntesten Echo an den äußersten Grenzen des Seins, dort, wo Dasein auf Nichtsein  stößt. Der Islâm ist die Religion des Alles oder Nichts [...[
 
Die Ethik hat im Islâm kein begrenztes Gebiet, das moralische Verhalten wird in der islâmisehen Werthaltung in keinen kompakten Textkorpus behandelt, sondern die Moralregeln sind in allen Gebieten des Islâms verstreut, so dass man nicht zu weit geht mit der Annahme, dass jede Religionsregel, jede Tat des Muslims einen ethischen und moralischen Aspekt enthält.
 
So können wir den prophetischen Spruch verstehen, in dem Muhammad von sich sagt: ,,Für keinen Zweck bin ich gesandt worden, auβer um vornehme Charaktereigenschaften zu vervollständigen.” (Überliefert von Buchârî)
 
Da kann man auch verstehen, warum die islâmische Ethik immer zusammen mit den Glaubensgrundsätzen als eine didaktische Einheit unterrichtet wird. Die islâmische Ethikphilosophie versinkt bei  Begriffsbestimmungen nicht in der gutturalen Pedanterie der Philosophen über das Was, Wie und Warum, sondern  sie  geht von der Tatsache aus, dass die Moralregeln in der menschlichen Natur verankert  sind; der Mensch kann von Natur aus wissen, was gut und was schlecht ist.
 
Das erklärt uns die unmitteibare Nähe von Theorie und Praxis in der islâmischen  Ethik. Die Vernunft gründet keine Moral. Der Moralkodex ist im Menschen so angeboren, dass selbst jeder Atheist die Tugend der Ehrlichkeit und die Untugend der Lüge von Natur aus erkennen kann. Die ethische Pflicht verfügt über die sittliche Macht, die sich unserem Willen und unserem Verstand als etwas Unabdingbares erweist. Sie zwingt unsere Gliedmaßen oder Sinne nicht, sondern sie drängt unserem Gewissen auf. Diese ethische Pflicht stammt nicht aus unserem Urteil über die Wirklichkeit, sondern aus dem über den Wert; nicht dem Sein,  sondern dem Sollen ist sie entsprungen. Vernunft und Offenbarung bieten nur ein leitendes Licht, damit die legitimen Bestrebungen des Menschen realisiert werden können und seinen zerstörerischen Gelüsten der Weg versperrt werden kann.
 
Die religiösen Regeln der Ethik treten nur organisierend, orientierend und fördernd auf, damit das Natürliche im Menschen sich möglichst fehlerfrei entfalten kann.
 
In diesem Abriss kann man natürlich nicht auf die verschiedenen Seiten der Ethik  im Islâm eingehen. Wir verweisen jedoch auf eine ausführliche Studie, die in ihrem Gebiet fast einmalig in der modernen islâmischen Philosophie ist. Diese ist die Dissertation von Muhammad Abdullâh Draz, die er an der Sorbonne in Paris Ende der vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts vollbracht hat. Es handelt sich hier um eine Arbeit, die die verschiedenen Aspekte der Moral im Islâm deckt und eine Methode bietet, wie man die moralischen Regeln aus den verschiedenen Textstellen des Qurâns ableiten kann.
 
Er wusste die islâmische Moral auf Grund von Verpflichtung (Obligation), Verantwortungsprinzip, Vergeltungsprinzip, Intention bzw. Motivation, Anstrengungs- und Aktionselementen zu behandeln. Das ethische Gesetz des Islâm hat die gemeinsamen Eigenschaften mit jedem anderen Gesetz.
 
Jedoch kennzeichnet es sich durch drei Spezifika:
 
a) Seine Möglichkeit:  d. h. es ist nicht unrealisierbar.
 
b) Seine Leichtigkeit:  d. h. es ist nicht mühselig, sich daran zu halten.
 
c) es ist von gestufter Natur:  d. h. es klassifiziert das Gute und das Böse jeweils in einer hierarchischen Ordnung.
 
Die Gerechtigkeit z. B. ist ein  Mindestmaß ihrer tugendhaften Art. Höher als sie ist der Altruismus und Sympathie, obligatorisch ist aber das Mindestmaß, die höheren Stufen werden empfohlen, jedoch bleiben sie fakultativ. Dem Individuum unterliegt die Anordnung seiner Prioritäten, so dass es aus dem ineinander verschränkten ethischen Komplex einem bestirnmten Akt in einem zeitlichen und existenziellen Moment den Vorzug gibt.
 
Der Islâm gibt hier auch einen umfassenden Rahmen, innerhalb dessen sich der Einzelne bewegen kann. Die allgemeinen Regeln garantieren eine freie Auswahlmöglichkeit, so dass das Obligatorische die eigene Initiative des Einzelnen nicht ausschließt. Es handelt sich hier um eine Regelung, die weder strikte, einsichtlose Unterwerfung noch absolutes Freidünken des Einzelnen verlangt, sondern Bewegung innerhalb eines weiten, aber festen Feldes. Somit hat jede Tat des Menschen nach dem islâmischen Wertesystem eine moralische Dimension. Moral wird in ihm keinesfalls von Wissenschaft, Kunst,Wirtschaft, Kultur, Literatur, Architektur und sogar vom Krieg getrennt.
 
 
 

Verwandte Artikel