Dieser Tag war der Tag der Kalifen. An diesem Tag verstarb ein Kalif, übernahm ein anderer Kalif die Herrschaft und wurde ein weiterer Kalif geboren. Was den verstorbenen Kalifen betrifft, so war es der Kalif Mûsa Al-Hâdî. Was denjenigen betrifft, der das Kalifat übernahm, so war es Hârûn Ar-Raschîd. Was aber den Kalifen anbelangt, der an diesem Tag geboren wurde, so war es Al-Ma'mûn. Dieser Tag war im Jahre 170 n. H.
Al-Ma'mûn war der erste Junge, der Ar-Raschîd geboren wurde, wobei das erste Kind oft bei seinem Vater ein bestimmtes Ausmaß an Hochschätzung und Liebe erfährt. Ar-Raschîd liebte daher Al-Ma'mûn und bevorzugte ihn, insbesondere nachdem dieser seine Mutter Marâdschil verloren hatte, die wenige Tage nach seiner Geburt verstorben war. Bei seinem Aufwachsen blieb ihm also das Mitgefühl der Mutter versagt. Ar-Raschîd war von der Klugheit seines Sohnes und dessen Beschäftigen mit dem Wissen begeistert. Als Ar-Raschîd einmal bei Al-Ma'mûn eintrat, während dieser ein Buch las, fragte er ihn: „Was ist das?“, antwortete Al-Ma'mûn: „Ein Buch, das den Verstand kräftigt und den Umgang bessert.“ Da sagte Ar-Raschîd: „Aller Lobpreis gebührt Allâh, Der mir einen Sohn schenkte, der mit seinem Herzen besser als mit seinen Augen begreift!“
Hârûn Ar-Raschîd war immer stolz auf den guten Charakter von Al-Ma'mûn und dessen Persönlichkeit. Er sagte: „Ich sehe in Abdullâh Al-Ma'mûn die Entschlossenheit von Al-Mansûr, die Frömmigkeit von Al-Mahdî und die Ehrfurcht von A-Hâdî. Will er, dass ich seine Eigenschaften meinen Eigenschaften zugehören lasse, tue ich das.“
Al-Ma'mûn lernte das Wissen von den besten Gelehrten seiner Zeit. Er lernte das Arabische von Al-Kisâî, einem der Gelehrten Kufas, der für Qurân-Lesarten, arabische Grammatik und Philologie berühmt war. Er erhielt Unterricht in Literatur bei Abû Muhammad Al-Yazîdî, der einer der besten Gelehrten seiner Zeit war. Al-Ma'mûn lernte die Hadîth-Wissenschaft, bis er zu einem der Hadîth-Überlieferer wurde. Viele Leute hörten ihn und überlieferten von ihm Hadîthe. Sein beispielloses starkes Gedächtnis half ihm bei der Überlieferung von Hadîthen. Es ist überliefert, dass Ar-Raschîd den Haddsch durchführen wollte. Er betrat Kufa und ließ die Hadîth-Gelehrten holen. Nur Abdullâh ibn Idrîs und Îsâ ibn Yûnus blieben zurück. Harûn Ar-Raschîd schickte den beiden Gelehrten Al-Amîn und Al-Ma'mûn. Ibn Idrîs erwähnte bei ihnen 100 Hadîthe. Da sagte Al-Ma'mûn: „O mein Onkel! Erlaubst du mir, dass ich diese Hadîthe nochmals aus meinem Gedächtnis erwähne?“ Er erwähnte die Hadîthe. Da wunderte sich Ibn Idrîs über sein Auswendiglernen.
Al-Ma'mûn beschäftigte sich in seiner Jugend mit dem Lesen der islâmischen Rechtslehre, Historie, Literatur, Philosophie und anderer Wissenschaften. Als die Zeit kam, bei der Ar-Raschîd einen Kalifen der Muslime nach ihm auswählen wollte, geriet er in Verlegenheit. Er liebte nämlich Al-Ma'mûn aus tiefstem Herzen und hatte Vertrauen zu dessen Fähigkeit zum Ertragen der Bürden der Herrschaft nach ihm. Schließlich fasste er aber den Enschluss, dass Al-Amîn Thronfolger und Al-Ma'mûn Thronfolger nach seinem Bruder sein solle.
Nach dem Ableben von Hârûn Ar-Raschîd leisteten die Menschen Al-Amîn den Treueid für das Kalifat. Dann schickte dieser jemanden zu Al-Ma'mûn, der ihn zum Gehorsam verpflichtete. Al-Ma'mûn verkündete seinen Gehorsam gegenüber seinem Bruder. Es gelang aber schlechten Freunden von Al-Amîn, dass dieser seinem Sohn statt seines Bruders Al-Ma'mûn die Macht zukommen lassen werde. Al-Ma'mûn lehnte indes diese Angelegenheit ab und konnte durch die Hilfe seines Wesirs Al-Fadl ibn Sahl und seines großen Lehrers Tâhir ibn Al-Husain Kalif der Muslime werden.
Die Zeit Al-Ma'mûns zeichnete sich dadurch aus, dass sie an Hochgelehrten in allen Wissenschaftszweigen reich war, wie etwa Asch-Schâfi‘î, Ahmad ibn Hanbal, Sufyân ibn Ujaina, Al-Farrâ und andere Hochgelehrte. Al-Ma'mûn liebte das Wissen und die Gelehrten, überlieferte Hadîthe, beschäftigte sich mit der Philosophie und motivierte Gelehrte und Literaten. Er schickte Delegationen nach Konstantinopel, Griechenland, Indien, Antiochien und verschiedene Städte, um Werke griechischer Gelehrten zu suchen und diese in die arabische Sprache zu übertragen. Er bemühte sich, ausländische Wissenschaftler zu bringen, um von deren Wissen und Erfahrung zu profitieren, sodass Bagdad zu seiner Zeit zum Leuchtturm der Wissenschaft wurde.
Al-Ma'mûn beschäftigte sich viel mit der Dichtung. Er pflegte Sitzungen zu veranstalten, in denen Gedichte vorgelesen wurden. Al-Ma'mûn liebte nicht nur die Dichtung, sondern er war auch selbst ein feinfühliger Dichter.
Al-Ma'mûn war für seine umfangreiche Großzügigkeit berühmt. Er pflegte zu sagen: „Die Herren unter den Menschen im Diesseits sind die Großzügigen.“ Er war darauf sehr bedacht, alle zu ihm gekommenen Klagen zu lesen. Er pflegte diese selbst nachzuprüfen und einem ungerecht Behandelten dessen Recht von einem Ungerechten wiedergeben zu lassen.
Eine Frau beklagte sich bei Al-Ma'mûn über dessen Sohn Al-Abbâs. Er forderte seinen Wasir Ahmad ibn Abû Châlid auf, dass dieser Al-Abbâs zusammen mit der Frau zu einer Gegner-Sitzung vorlädt. Die Frau erhob ihre Stimme über die Worte von Al-Abbâs. Ahmad ibn Abû Châlid sagte zu ihr: „O anbetend Dienende Allâhs! Du stehst vor dem Fürsten der Gläubigen und sprichst zum Fürsten. Dämpfe also deine Stimme!“ Da sagte Al-Ma'mûn: „Lass sie, Ahmad! Es ist nämlich die Wahrheit, die sie zum Sprechen antreibt, und Falschheit, die ihn [seinen Sohn] zum Schweigen veranlasst.“ Dann verkündete Al-Ma'mûn ihr Recht und wies an, dass man ihr Unterhalt gebe.
Al-Ma'mûn tadelte heftig einen Mann unter seiner Dienerschaft, weil dieser einen persischen Mann ungerecht behandelt hatte, indem er zu ihm sagte: „Bei Allah! Wenn du meinem Sohn Al-Abbâs Unrecht tätest, würde ich dich weniger tadeln, als dass du einem Schwachen Unrecht tust, der mich nicht zu jeder Zeit findet!“ Al-Ma'mûn war nachsichtig. Er verzieh jemandem, der ihm Unrecht tat oder ihm Böses zufügte, sodass er sagte: „Bei Allah, ich liebe die Verzeihung, sodass ich fürchte, dass ich dafür nicht belohnt werde. Wüssten die Menschen um das Ausmaß meiner Liebe zur Verzeihung, würden sie sich mir durch Begehen von Verbrechen nähern.“ Er sagte auch: „Ich wünsche, dass die Verbrecher meine Meinung über die Verzeihung kennen, damit sich die Angst von ihnen entfernt und ihnen Freude bereitet wird.“ Wenn er auch gegen sich nachsichtig war, war er doch nicht nachlässig beim Recht der Religion oder des Staates.
Er war gegenüber den Menschen mild, nachsichtig und gütig. Abdullâh ibn Tâhir, einer der nahegestellten Männer von Al-Ma'mûn, überlieferte: „Ich war bei Al-Ma'mûn. Dann rief er den Diener: O Jüngling! Und niemand antwortete ihm. Er rief wieder: O Jüngling! Da kam ein türkischer Diener und sagte: Soll der Jüngling weder essen noch trinken? Jedes Mal, wenn wir von dir hinausgehen, rufst du ΄O Jüngling, o Jüngling!΄ Bis wann rufst du΄O Jüngling!΄? Da senkte Al-Ma'mûn seinen Kopf für lange Zeit, wobei ich nicht daran zweifelte, dass er mich anweisen werde, den Kopf des Jünglings abzuschlagen. Dann schaute er mich an und sagte: O Abdullâh! Wenn die Moral eines Mannes gut ist, wird die Moral seines Dieners schlecht sein. Und wenn seine Moral schlecht ist, wird die Moral seines Dieners gut sein. Wir können jedoch nicht unsere Moral schlecht machen, damit die Moral unserer Diener gut wird.“
Neben dieser großen Nachsichtigkeit verfügte Al-Ma'mûn über viele Vorzüglichkeiten. Dazu gehört seine große Bescheidenheit gegenüber jedem Menschen, den er kannte. Sein Richter Yahyâ ibn Aktham war einmal Gast bei ihm. Kalif Al-Ma'mûn brachte ihm Wasser. Yahyâ wunderte sich darüber. Wie kommt es, dass der Fürst der Gläubigen Wasser für ihn bringt und ihn bedient, während er an seinem Platz sitzt? Als Al-Ma'mûn das Erstaunen Yahyâs in dessen Gesichtzügen bemerkte, sagte er zu ihm: „Der Herr der Leute ist derjenige, der sie bedient.“
Al-Ma'mûn war durch seine Klugheit und sein umfangreiches Wissen bekannt. Eine Frau kam zu ihm und sagte ihm: „Mein Bruder ist verstorben und hat 600 Dinar hinterlassen. Meine Familienangehörigen gaben mir nur einen Dinar und sagten: Das ist dein Erbe von deinem Bruder. Al-Ma'mûn dachte darüber nach und fragte sie: „Hat dein Bruder vier Töchter hinterlassen?“ Sie erwiderte: Ja! Da fragte er: Bekamen sie 400 Dinar (zwei Drittel der Erbmasse)? Sie entgegnete: Ja! Er sagte: Er hinterließ eine Mutter, der 100 Dinar (ein Sechstel der Erbmasse) zusteht, eine Frau, der 75 Dinar (ein Achtel der Erbmasse) zusteht. Um Allahs willen, hast du 12 Brüder? Sie antwortete: Ja! Daraufhin sagte er: Jeder von ihnen bekommt zwei Dinare und du bekommst einen Dinar.“
Al-Ma'mûn pflegte zum Recht zurückzukehren, falls er einen Fehler beging. Einmal wies er an, dass jemand ausrief, dass die Zeitehe erlaubt sei. Da trat Yahyâ ibn Aktham bei ihm ein und erwähnte ihm einen nach einer Aussage von Alî überlieferten Hadîth, dass die Zeitehe harâm ist. Als er die Authentizität des Hadîthes erkannt hatte, kehrte er zur Wahrheit zurück und wies jemanden an, der ausrief, dass die Zeitehe harâm ist. Zu seiner Zeit brachen mehrere Kriege aus. Er schlug einige Revolutionen nieder. Ebenso mühte er sich gegen die Römer und bekämpfte sie. Das Kalifat von Al-Ma'mûn dauerte 20 Jahre ab dem Jahr 198 n. H. bis zum Jahr 218 n. H.
Als er fühlte, dass er bald sterben werde, sagte er: „O Derjenige, Dessen Herrschaft nicht verschwindet, erbarme Dich jemandes, dessen Herrschaft verschwunden ist! O Derjenige, Der unsterblich ist, erbarme Dich jemandes, der stirbt!“
Al-Ma'mûn verstarb nach einem Leben, das von Gutem und Aufopferung voll war, und zwar im Jahre 218 n. H. in der Stadt Tartus (einer Stadt an der Mittelmeer-Küste in Syrien), als er 48 Jahre alt war.