Der Tag, an dem ich starb - Teil 2

10755 3761

Die Fahrt zum Leichenschauhaus war das schlimmste Erlebnis in meinem gesamten Leben. Ich war allein. Es war dunkel und kalt. Ich sehnte mich nach meiner Mutter. Ich vermisste meinen Bruder. Ich blickte nach meiner Schwester. Ach, hätte ich doch meinen letzten Abend mit meiner Familie verbracht statt mit Umar und Mâlik. Was würde wohl meine Mutter machen, wenn sie mich in diesem Zustand sieht? Ich war hässlich. Als wir schließlich ankamen wurde ich in einen anderen kalten Raum gebracht, in dem sich Dutzende von toten Menschen befanden. Meine Familie fehlte mir sehr. Von Zeit zu Zeit kam eine Familie, um ihren toten Verwandten zu sehen. Dabei hegte ich vergeblich die Hoffnung, es wäre meine Familie, die da kommen würde. Stunden vergingen. Keine Mama. Kein Papa. Ich weinte erneut. Nach einer zusätzlichen Stunde erkannte ich Stimmen. Mein Vater kam mit meiner Mutter in dessen Armen herein. Sein Gesicht war von Anspannung gezeichnet. Ihres hingegen war voller Tränen. Sie blickten lediglich in meine Augen und weinten. Ich starrte zurück. Ich wollte ihnen sagen, dass ich sie liebe. Ich konnte aber nicht. Ich wollte sie umarmen. Ich konnte aber nicht. Meine Mutter streichelte mein blutgetränktes Haar und ging.

 

Dann fing ich an zurückzudenken. Es war ungewöhnlich, dass mein Erinnerungsvermögen so gut war. Ich hatte nämlich bis zu meiner Bestattung ausreichend Zeit, um über meine Lage nachzusinnen. Plötzlich erinnerte ich mich buchstäblich an jedes rituelle Gebet, das ich versäumt habe und warum ich das getan hatte. Darunter befanden sich Faulheit, Aufschiebung und Nachlässigkeit. Ich wusste, dass ich mich in einer schwierigen Situation befand. Ich wünschte, es würde etwas länger dauern, bis sie mich bestatteten. Ich habe versagt! Versagt! Versagt!

 

Selbst meine Freundin besuchte mich. Sie war ein Teufel in Menschengestalt. Als ich noch lebte, sah ich in ihr einen wunderschönen Engel. Mein hübscher Engel, der mich liebte und alles für mich tun würde, um mich glücklich zu machen. Wäre ich in der Lage, würde ich sie verfluchen und sie auffordern, das Leichenschauhaus zu verlassen. Sie legte ihre Hand auf meine Stirn. Ich erlaubte es ihr für die letzten vier Jahre. Jetzt bin ich zwar dagegen, kann es aber nicht mehr verhindern. Der Teufel weinte stundenlang an meiner Seite. Sie wollte einfach nicht gehen. Ich fühlte mich betrogen. Sie gab mir das Gefühl, als hätte sie in den letzten Jahren meines Lebens einen Streich mit mir gespielt. Ich hasste diesen Teufel! Sie war hässlich! Sie roch schrecklich! Schließlich ging sie. Als sie durch die Tür hinausging, stieg in mir die Angst auf und die Furcht erfasste mein Herz.

 

Die Beerdigung war schlicht. Mein Leichnam wurde gewaschen. Es schien mir gleichgültig zu sein, dass sich mein nackter Körper vor anderen entblößte. Meine Ängste übertrafen meinen Hang zur Sittsamkeit. Ich wurde in drei weiße Tücher eingehüllt. Etwa 300 Menschen nahmen an meiner Beerdigung teil. Ich war sehr traurig darüber, dass ich meine Mutter nicht bei der Bestattung sah. Ich wünschte, sie würde ein letztes Mal kommen und mich sehen, bevor sie mich beisetzen. Ich wusste nicht, dass sich so viele Menschen um mich sorgen würden. Viele starrten fassungslos auf die straff eingehüllte Gestalt. Andere wiederum weinten.

 

Als sie mich in das Grab hineinlegten, begriff ich, dass all meine sog. „Errungenschaften“ mir keinen Nutzen stiften werden. Hätte ich mich doch bloß täglich meinen fünf rituellen Gebeten gewidmet, so wäre ich mit mir selbst im Einklang.

 

Die Masse betete für mich. Sie baten Allâh um Milde und Gnade, so dass Er mit mir barmherzig verfahre. Sie baten Ihn, mir zu vergeben. Ich wollte zwar eigens für mich beten, konnte aber nicht sprechen. Ich war hilflos. Ich wurde zu einem Loch inmitten der kargen Wüstenlandschaft gebracht. Die Menschen kamen nach. Es schien alles in Zeitlupe abzulaufen. Ich wollte nicht gehen. Hätte ich weitere 24 Stunden, würde ich ohne Unterbrechung beten. Sie legten mich in das Grab hinein. Die mich erwartenden Geschehnisse setzten mir ordentlich zu. Ich habe mit Sicherheit im Leben versagt. Ich dachte über alle irdischen Erfolge im Leben nach, für deren Erzielung ich hatte hart arbeiten müssen. Ich hatte einen akademischen Grad erworben. Seit meinem 16. Lebensalter hielt ich mich stundenlang im Fitness-Studio auf. Und einen gut bezahlten Job hatte ich auch. Eine hübsche Freundin, die mich liebte, war an meiner Seite. Im Hinblick auf das irdische Leben waren das errungene Auszeichnungen und Ehrungen, die einem zuteil wurden. Als sie mich jedoch ins Grab senkten, merkte ich, dass ich mit all diesen „Errungenschaften“ und „Auszeichnungen“ im bevorstehenden Leben nichts anfangen konnte. Ich wünschte, ich hätte meine fünf rituellen Gebete regelmäßig verrichtet, so dass ich jetzt meinen Frieden gefunden hätte. Stattdessen bin ich ein nervöses Wrack; jenseits von all dem, was ihr begreifen könnt.

 

Die Grube wurde mit Sand zugeschüttet. Die Dunkelheit brach über mein neues Heim ein. Das letzte Häufchen Sand füllte das Grab. Jeder ging betrübt hinfort. Der Friedhof leerte sich langsam. Schließlich ging auch meine Familie. Die Beisetzung war vorbei, die Teilnehmer hinfort. Bei Einbruch der Nacht war ich allein. Ganz allein. Mein Leichentuch war vor lauter Schweiß völlig durchnässt. Ich wartete ungeduldig auf die Engel. Sie kamen und sie fragten. Ein endgültiges Urteil wurde noch nicht gefällt. Ich warte auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Immer noch allein, hier liegend; Tage und Nächte vergehen. Schon bald werde ich vor Allâh stehen und Er wird entscheiden, ob Er mir vergibt oder nicht. Ich kann hier nur liegen, warten und hoffen, dass der Allvergebende, der Allbarmherzige, mir vergibt und mich nicht bestraft. Ich hoffe es. Das ist alles, was ich momentan habe: Hoffnung.

Der Tag, an dem ich starb - Teil 1

 

Verwandte Artikel