Darf man sein ganzes Vermِgen spenden?

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Ist es dem Muslim erlaubt, sein ganzes Vermögen auszugeben, wenn er will? Wird diese Tat von Allâh dem Erhabenen gelobt und gutgeheißen? Haben die rechtschaffenen Vorfahren so etwas getan oder nicht?

 

Zuerst soll erklärt werden, dass zu den Merkmalen des lobwürdigen Spendens die Mäßigkeit gehört. Der Muslim ist beauftragt, anderen zu geben, aber auch etwas für sich und seine Familie zu behalten und auch etwas für die Wechselfälle des Lebens und die Schicksalsschläge zu sichern. Es ist nicht gut für den Muslim, sein ganzes Vermögen auszugeben und nichts für sich zu sparen.

 

Diese Auffassung kann von den folgenden Worten Allâhs des Gepriesenen und Erhabenen abgeleitet werden: „Die an das Verborgene glauben, das Gebet verrichten und von dem, womit Wir sie versorgt haben, ausgeben.“ (Sûra 2:3). Die Belegstelle im edlen Vers sind die Worte „und von dem, womit Wir sie versorgt haben, ausgeben“. Der Gelehrte Asch-Schanqîtî sagte: „In diesem edlen Qurân-Vers gebraucht Er die Präposition von, die darauf hinweist, das man einen Teil seines Vermögens um Allâhs willen ausgibt und nicht das ganze Vermögen. Hier bestimmt Er, was genau ausgegeben und was behalten werden soll, aber an einigen anderen Stellen erklärt Er, das man das ausgeben soll, was die Grundbedürfnisse des Menschen übertrifft. Er sagt zum Beispiel: ... Und sie fragen dich, was sie ausgeben sollen. Sag: Den Überschuss... (Sûra 2:219). Mit dem Überschuss ist nach den korrekten Auslegungen gemeint: Was nach der Deckung der notwendigen Bedürfnisse übrig bleibt, und das ist die Meinung der Gelehrtenmehrheit.“ (Aus: Adwâ’u Al-Bayân von Asch-Schanqîtî).

 

Es gibt noch andere Qurân-Verse, die diese Bedeutung bekräftigen, wie die Worte Allâhs des Hocherhabenen von den Eigenschaften der dem Allbarmherzigen anbetend Dienenden: „Und diejenigen, die, wenn sie ausgeben, weder maßlos noch knauserig sind, sondern den Mittelweg dazwischen (einhalten).“ (Sûra 25:67). Allâh der Erhabene beschrieb sie damit, dass sie, wenn sie ausgeben, nicht maßlos werden, und dies erfordert, dass man einen Teil seines Vermögens behält und nicht alles ausgibt.

 

Die Qurân-Verse rufen zum Sparen auf:

 

Aus dem Obenerwähnten schlussfolgern wir, dass der edle Qurân schon vor der modernen Wirtschaftswissenschaft zum Sparen aufrief, und zwar durch den Hinweis darauf, ohne dies jedoch offen zu erwähnen. Dies gehört sicher zum Wundercharakter des Qurân in Wirtschaft und Rhetorik.

 

Zu den Geheimnissen der qurânischen Ausdrucksweise gehört, dass er das erwünschte Hergeben aus dem macht, was Allâh den anbetend Dienenden gönnt. Das bedeutet einen Teil davon. Man gibt also einen Teil her und spart den anderen Teil. Wer einen Teil seines Einkommens hergibt, wird kaum verarmen. Der Prophet pflegte gemäß einer authentischen Überlieferung für seine Familie die Lebensmittel eines Jahres im Voraus aufzubewahren. Dies widerspricht weder dem Vertrauen auf Allâh den Erhabenen noch der Enthaltsamkeit gegenüber der diesseitigen Welt, sondern es gehört zu den erlaubten Mitteln, die man ergreifen soll. Wenn sich die Umma an das Sparen hält und es zu einer ihrer allgemeinen Eigenschaften macht, wird sie beachtliche Geldsummen erhalten, die sie dann im Dienste der ganzen Gesellschaft gebrauchen kann und mit denen sie die verschiedenen Lücken im wirtschaftlichen Leben füllen kann, anstatt vom Ausland Zinsdarlehen zu nehmen, die Allâh vernichtet und deretwegen Allâh der Erhabene den Zinsnehmern mit dem Krieg seitens Seiner und Seines Gesandten droht.

 

Wir erleben die Spuren dieser Vernichtung und dieses Krieges in den milliardenschweren Schulden und deren Zinsen, die unsere Völker und Gemeinschaften dermaßen erschöpfen, dass sie die Schulden durch neue Schulden zu begleichen suchen.

 

Zu den Früchten dieser Schlussfolgerung gehört die Verankerung des Sparprinzips als ein islâmisches Prinzip, zu dem der Qurân neben dem Spenden aufgerufen hat. Ist es erwünscht, zu spenden und herzugeben, so ist auch das Sparen erwünscht. Das islâmische System verlangt aber von den Menschen nicht, dass sie ihr ganzes Vermögen hergeben, um dann auf den Segen und die Wiedergutmachung zu warten.

 

Der geehrte Gefährte Abû Bakr gab sein ganzes Vermögen her:

 

Zur Zeit des Propheten ereignete sich ein Vorfall, der den Beweis für die Erlaubnis bietet, das ganze Vermögen herzugeben, nämlich die bekannte Geschichte, die von unserem geehrten Gefährten Umar ibn Al-Chattâb berichtet wurde. Er erzählte: „Eines Tages wies uns der Prophet an, Almosen zu geben. Es war nun so, dass ich zu dieser Zeit etwas Geld besaß, und ich sagte: Wenn ich jemals Abû Bakr übertreffen kann, dann werde ich ihn heute übertreffen [im Spenden]. Und ich brachte die Hälfte meines Geldes. Da fragte der Gesandte Allâhs : Was hast du für deine Familie behalten? Ich antwortete: Genauso viel. Dann brachte Abû Bakr sein ganzes Geld und der Gesandte Allâhs fragte ihn: Was hast du für deine Familie behalten? Er sagte: Ich behielt für sie Allâh und Seinen Gesandten. Da sagte ich: Ich werde nie wieder mit dir um etwas wetteifern.“ (Von Abû Dawûd und At-Tirmidhî überliefert und von Al-Albânî als authentisch eingestuft).

 

Widerspricht diese Überlieferung dem vom edlen Qurân abgeleiteten Prinzip des Hergebens, nämlich dass man nur einen Teil des Vermögens und nicht das ganze Vermögen hergeben soll? Oder gibt es eine Erklärung, die das augenblickliche Verständnis korrigiert, dass es auf Grund der Vorgehensweise von Abû Bakr und der Bestätigung seitens des Propheten erlaubt ist, das ganze Vermögen herzugeben?

 

Die ausführliche Erklärung lautet wie folgt:

 

1. Die feste Überzeugung von Abû Bakr , sein fester Glaube an Allâh den Gepriesenen und Erhabenen und seine Standhaftigkeit haben ihm bestimmt dieses Handeln erleichtert. Dazu sagt der Gelehrte Al-Chatabî: „Er [der Prophet] hat das Handeln von Abû Bakr As-Siddîq, dessen ganzes Vermögen hergegeben zu haben, nicht kritisiert, weil er die Aufrichtigkeit dessen Absicht und die Stärke dessen Überzeugung kannte und für ihn keine Versuchung fürchtete.“ Und der Gelehrte Ibn Âbidîn sagte: „Wer sein ganzes Vermögen spenden will und von sich weiß, dass er starkes Vertrauen in Allâh hat und die Menschen nicht anbetteln wird, dann darf er das, sonst jedoch nicht. Es ist für diejenigen, die die knappe Lebensführung nicht erdulden können, nicht erwünscht, ihre Ausgaben unter das ausreichende Maß zu kürzen.“

 

Wer in sich also eine ähnliche Stärke der Überzeugung und der Standhaftigkeit sieht, darf sein ganzes Vermögen ausgeben, wie es Abû Bakr As-Siddîq getan hat.

 

2. Für denjenigen, der so etwas tun will, ist es eine Voraussetzung, dass er für niemand anderen aufkommen muss. Wenn er jedoch für eine Ehefrau und Kinder sorgen muss, dann muss er für sie das zurückbehalten, was ihnen genügt, es sei denn, sie haben ebenso viel Standhaftigkeit und feste Überzeugung wie er, dann darf er das [sein ganzes Vermögen spenden]. At-Tabarî sagte: „Die Mehrheit der Gelehrten sagte: Wer sein ganzes Vermögen spendet, während er im Besitz seiner körperlichen und geistigen Gesundheit ist, keine Schulden hat, das karge Leben ertragen kann, keine Kinder zu versorgen hat – oder er hat welche, die aber wie er standhaft sind –, dann darf er dies. Wenn jedoch eine dieser Bedingungen fehlt, dann ist es unerwünscht, und einige Gelehrten sind sogar der Meinung, dass es nicht von ihm angenommen wird.“

 

3. Obwohl Abû Bakr As-Siddîq sein ganzes Vermögen spendete, wird dies auf die Dirhams und Dinare, also nur auf das bewegliche Vermögen bezogen. Dazu sagte Ibn Hazm: „Er [Abû Bakr] besaß zweifelsohne ein Haus in Madîna, das alle kannten, und auch ein Haus in Makka. Und jemanden wie Abû Bakr hätte der Prophet nicht im Stich gelassen, er war daher also genügend reich.“

 

Das Handeln von Abû Bakr As-Siddîq war also nicht ohne Bedingungen, und daher darf niemand sein Handeln zum Vorbild nehmen, ohne die oben erwähnten Bedingungen und Einschränkungen einzuhalten. Und Allâh weiß es am besten!

 

In der Geschichte von Ka’b ibn Mâlik wollte dieser, als er den Feldzug von Tabûk verpasst hatte und Allâh der Hocherhabene seine Reue offenbarte, sein ganzes Vermögen aus Dankbarkeit gegenüber Allâh dem Erhabenen und zur Bestätigung seiner Reue um Allâhs willen spenden; im Laufe dieser bekannten Geschichte sagte Ka’b : „O Gesandter Allâhs, zu meiner Reue gehört, dass ich Allâh und Seinem Gesandten mein ganzes Vermögen als Almosen übergebe.“ Da sagte der Gesandte Allâhs zu ihm: „Behalte einen Teil deines Vermögens, das ist besser für dich!“ (Überliefert von Al-Buchârî). An-Nawawî sagte: „Der Prophet wies ihn an, nur einen Teil seines Vermögens zu spenden, weil er befürchtete, dass er wegen der Armut beeinträchtigt und das karge Leben nicht ertragen werde. Dies widerspricht jedoch nicht dem Fall von Abû Bakr As-Siddîq, der sein ganzes Vermögen spendete, denn er war standhaft und damit zufrieden.“ (Aus dem Kommentar von An-Nawawî zum Sahîh-Werk von Muslim).

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die religiöse Rechtsnorm für die Frage, ob man sein ganzes Vermögen spenden darf, je nach den oben genannten Kriterien variiert: Es ist für denjenigen, der sich dem Zustand von Abû Bakr As-Siddîq ähnlich fühlt, einwandfrei, sein ganzes Vermögen zu spenden, und dafür wird er von Allâh dem Erhabenen belohnt. Wer aber anders ist, für den ist es besser, einen Teil seines Vermögens zu behalten und nicht das ganze zu spenden.

 

Und Allâh weiß es am besten!

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