Als ich heranwuchs, war die Welt ein ausgezeichneter Ort. Das einzige Problem war, dass sie es in Wirklichkeit nicht war. Ich glaubte daran, dass alles immer „fair“ sein könnte. Für mich bedeutete dies, dass niemandem jemals Unrecht zugefügt werden sollte, und wenn es jemandem zugefügt werden würde, Gerechtigkeit erfolgen müsse. Ich kämpfte heftig für den Weg, von dessen Richtigkeit ich überzeugt war. Bei meinem Kampf übersah ich jedoch eine grundlegende Wahrheit des Diesseits. In meinem kindlichen Idealismus misslang es mir, zu verstehen, dass das Diesseits grundsätzlich unvollkommen ist. Wir als Menschen sind grundsätzlich unvollkommen. Deshalb werden wir immer versagen. Und während dieses Versagens werden wir unvermeidbar anderen schaden – bewusst und unbewusst, absichtlich und unabsichtlich. Die Welt ist nicht immer fair.
Von anderen verletzt – Wie man dies bewنltigt und heilt
- Veröffentlicht:15.01.2014
- Kategorie:Gegenüber anderen
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Bedeutet dies, dass wir damit aufhören sollten gegen Ungerechtigkeit anzukämpfen oder dass wir auf die Wahrheit verzichten sollten? Natürlich nicht! Es bedeutet jedoch, dass wir das Diesseits – und anderes – nicht mit einem unrealistischen Maßstab messen sollten. Doch dies ist nicht immer leicht. Wie können wir in einer derart mangelbehafteten Welt leben, in der Menschen uns enttäuschen und selbst unsere eigene Familie uns das Herz brechen kann? Und womöglich das Schwierigste überhaupt: Wie können wir lernen zu vergeben, wenn uns Unrecht zugefügt wurde? Wie können wir stark werden, ohne hart zu sein, und weich bleiben, ohne schwach zu sein? Wann warten wir ab und wann können wir uns gehen lassen? Wann wird das Zu-viel-Ertragen zu viel? Und kann man mehr lieben als man sollte?
Um damit zu beginnen, die Antworten zu finden, müssen wir zunächst einen Schritt aus unserem Leben heraus machen! Wir müssen herausfinden, ob wir der Erste oder der Letzte sind, der sich ungerecht behandelt fühlt! Wir müssen unsere Vorfahren betrachten, um deren Kämpfe und Erfolge zu studieren! Und wir müssen erkennen, dass Wachstum niemals ohne Schmerz erfolgt und Erfolg lediglich ein Produkt des Kampfes ist. Dieser Kampf beinhaltet fast immer Standhaftigkeit und Überwindung des Schadens, der durch andere entstand.
Das Nachsinnen über die leuchtenden Vorbilder - unsere Propheten - wird uns daran erinnern, dass wir mit unserem Schmerz nicht isoliert dastehen. Erinnert euch daran, dass der Prophet Noah 950 Jahre lang von seinem Volk geschmäht wurde. Der Qurân berichtet uns: „Vor ihnen (schon) bezichtigte das Volk Nuhs (ihren Gesandten) der Lüge. Sie bezichtigten Unseren Diener der Lüge und sagten: ‚Ein Besessener.‘ Und er wurde (von ihnen) gescholten.“ (Sûra 54:9). Noah wurde so sehr geschmäht, dass er schließlich seinen Herrn anrief: „…Ich bin überwältigt, so leiste Du (mir) Hilfe!“ (Sûra 54:10).
Oder wir können in Erinnerung rufen, wie der Prophet möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken mit Steinen beworfen wurde, bis er blutete, und wie die Prophetengefährten geschlagen wurden und hungerten. All dieses Unrecht geschah durch die Hände anderer. Selbst die Engel verstanden diesen Aspekt der menschlichen Veranlagung – schon bevor wir erschaffen wurden. Als Allâh den Engeln mitteilte, dass Er den Menschen erschaffen würde, fragten sie zuerst nach diesem schädlichen Potential des Menschen. Allâh teilt uns mit: „Und als dein Herr zu den Engeln sagte: Ich bin dabei, auf der Erde einen Statthalter einzusetzen, da sagten sie: Willst Du auf ihr etwa jemanden einsetzen, der auf ihr Unheil stiftet und Blut vergießt …“ (Sûra 2:30).
Dieses Potential der Menschen, gegenseitig entsetzliche Untaten zu verüben, ist eine traurige Realität des Diesseits. Und trotzdem sind viele von uns gesegnet. Die meisten von uns mussten nicht derartiges Unheil durchleben, das andere im Laufe der Zeit erlitten haben. Die Meisten von uns werden niemals zusehen müssen, wie ihre Familien gefoltert oder getötet werden. Und dennoch gibt es Wenige von uns, die sagen könnten, dass sie niemals auf die eine oder andere Art von jemandem verletzt wurden. Obwohl also die Meisten von uns niemals das Gefühl erfahren müssen, zu verhungern oder hilflos dazustehen, während ihre Häuser zerstört werden, werden die Meisten von uns wissen, was es bedeutet, auf Grund eines verletzten Herzens zu weinen.
Ist es möglich dies zu vermeiden? Zu einem gewissen Grad denke ich schon. Wir können niemals allen Schmerz verhindern, doch indem wir unsere Erwartungen, unsere Reaktionen und unser Fokussieren anpassen, können wir viel Zerstörung vermeiden. All unser Vertrauen, unseren Verlass und unsere Hoffnung in einen anderen Menschen zu stecken, ist beispielsweise unrealistisch und einfach völlig unvernünftig. Wir müssen daran denken, dass Menschen fehlbar sind. Deshalb sollten unser definitives Vertrauen, unser Verlass und unsere Hoffnung einzig in Allâh gesetzt werden. Allâh sagt: „… Wer also falsche Götter verleugnet, jedoch an Allâh glaubt, der hält sich an der festesten Handhabe, bei der es kein Zerreißen gibt. Und Allâh ist Allhörend und Allwissend.“ (Sûra 2:256). Zu wissen, dass Allâh der einzige Haltegriff ist, der niemals bricht, wird uns vor viel unnötiger Enttäuschung bewahren.
Und trotzdem bedeutet dies nicht, dass wir nicht lieben sollten oder dass wir weniger lieben sollten. Wichtig ist, wie wir lieben. Nichts außer Allâh sollte unser definitives Liebesobjekt sein. Nichts sollte in unseren Herzen Allâh vorangestellt werden. Und wir sollten niemals zu einem Punkt kommen, an dem wir etwas neben Allâh in dem Maße lieben, dass es unmöglich wäre, ohne dies weiterzuleben. Diese Art „Liebe“ ist keine Liebe, sondern eigentlich Anbetung, und sie verursacht nichts als Schmerz!
Doch was geschieht, wenn wir all dies getan haben und trotzdem von anderen verletzt oder ungerecht behandelt werden – was auch unvermeidbar geschehen wird? Wie können wir das Schwerste bewältigen? Wie können wir lernen zu vergeben? Wie können wir lernen unsere Narben verheilen zu lassen und weiterhin gut zu den Menschen sein, selbst wenn sie nicht gut zu uns sind?
In der Geschichte Abû Bakrs ! findet sich ein schönes Beispiel unter genau diesem Aspekt. Nachdem seine Tochter Âischa aufs Schlimmste verleumdet worden war, fand Abû Bakr heraus, dass der Mann, der das Gerücht begann, Mistah war - ein Cousin, den Abû Bakr finanziell unterstützte. Natürlicherweise hielt Abû Bakr die Almosen zurück, die er dem Verleumder gegeben hatte. Kurz darauf offenbarte Allâh folgenden Vers: „Und es sollen diejenigen von euch, die Überfluß und Wohlstand besitzen, nicht schwören, sie würden den Verwandten, den Armen und denjenigen, die auf Allâhs Weg ausgewandert sind, nichts mehr geben, sondern sie sollen verzeihen und nachsichtig sein. Liebt ihr es (selbst) nicht, dass Allâh euch vergibt? Allâh ist Allvergebend und Barmherzig.“ (Sûra 24:22).
Als Abû Bakr diesen Vers gehört hatte, beschloss er, dass er Allâhs Vergebung will, und deshalb gab er dem Mann nicht nur weiterhin Geld. Er gab ihm sogar noch mehr.
Diese Art Vergebung beweist, dass man ein den Glauben Verinnerlichender ist. Allâh beschreibt diese den Glauben Verinnerlichenden wie folgt: „Und diejenigen, die schwerwiegende Sünden und Abscheulichkeiten meiden und, wenn sie zornig sind, (doch) vergeben.“ (Sûra 42:37).
Die Fähigkeit, anderen bereitwillig zu vergeben, sollte von einem Bewusstsein unserer eigenen Mangelhaftigkeit und unserer Fehler angetrieben sein. Doch unsere Bescheidenheit sollte vor Allem von der Tatsache angetrieben sein, dass wir Allâh jeden einzelnen Tag unseres Lebens ungerecht behandeln, indem wir sündigen. Wer sind wir im Vergleich zu Allah? Und dennoch vergibt Allâh der Herr des Universums Tag und Nacht. Wer sind wir, um Vergebung zurückzuhalten? Wenn wir hoffen, dass Allâh uns vergibt, wie können wir dann anderen nicht vergeben? Aus diesem Grund lehrte uns der Prophet: „An denjenigen, die an anderen keine Barmherzigkeit üben, wird Allâh keine Barmherzigkeit üben.“ (Muslim).
Diese Hoffnung auf Allâhs Barmherzigkeit sollte unseren eigenen Wunsch zum Vergeben stärken, um eines Tages die einzige Welt, die wirklich vollkommen ist, zu betreten!