Da die Stammesführer den Streit untereinander nicht beilegen konnten, einigten sie sich darauf, den ersten Ankömmling über die Angelegenheit entscheiden zu lassen. Muhammad war der erste Ankömmling. Er entschloss sich dazu, den Stein auf ein Stück Stoff zu legen und bat die Streitenden, ihn so gemeinsam zu tragen und in einer Art und Weise an seinen Platz zu setzen, dass jeder Stammesführer sich am Handlungsablauf beteiligt. Sie waren mit seiner weisen Entscheidung einverstanden und setzten sie sofort um. Dadurch war das Problem gelöst und der Friede gewahrt. Dies ist die Moral der Geschichte des Schwarzen Steins. Wenn die Pilger den Stein also küssen oder ehrfürchtig auf ihn zeigen, dann tun sie dies im Gedenken an Muhammad, den weisen Friedensstifter. Die Angelegenheit könnte durch einen Vergleich klarer werden: Für einen frommen Patrioten, der aus dem Exil zurückkehrt oder für einen kämpfenden Soldaten, der vom Schlachtfeld zurückkehrt, ist es selbstverständlich, bei der Ankunft an den Grenzen seines geliebten Heimatlandes bestimmte Dinge zu tun. Er könnte beispielsweise den Boden an der Grenze küssen, die ersten Landsleute, denen er begegnet, mit starken Emotionen umarmen oder für einige Grenzsteine Bewunderung zeigen. Dies wird als normal und akzeptabel betrachtet. Niemand würde denken, dass der Patriot oder der Soldat den Boden anbetet, seine Landsleute vergöttert oder den Grenzsteinen göttliche Fähigkeiten zuschreibt. Das Verhalten der Pilger sollte in ähnlicher Weise gedeutet werden! Die Ka'ba in Makka ist das spirituelle Zentrum des Islâm und die spirituelle Heimat für jeden Muslim. Wenn der Pilger in Makka ankommt, entsprechen seine Gefühle denen eines Patrioten, der aus dem Exil nach Hause zurückkommt oder einem siegreichen Soldaten, der von einer entscheidenden Schlacht zurückkehrt. Dies ist keine metaphorische Interpretation, sondern entspricht geschichtlichen Tatsachen. Die frühen Muslime wurden aus ihren Häusern vertrieben und dazu gezwungen, jahrelang im Exil zu leben. Ihnen wurde das Recht verwehrt, in der Ka'ba, dem heiligen Haus Allâhs, zu beten. Als sie aus dem Exil zurückkehrten, war die Ka'ba ihr erstes Ziel. Sie betraten freudig die heilige Kultstätte, zerstörten alle Götzen und Bilder, die sich dort befanden, und vollzogen die Riten des Haddsch.
Diese Interpretation wird mittels einiger ungewöhnlicher Erlebnisse außergewöhnlicher Menschen erhellend erklärt. Ein berühmter ungarischer Schriftsteller floh beispielsweise aus seinem besetzten Land und nahm eine Handvoll Erde mit. Literarische Annalen berichten, dass der Schriftsteller größten Trost und tiefste Freude in dieser Handvoll Erde fand. Sie war seine Inspirationsquelle und ein Symbol für Hoffnung, dass er letztendlich in ein freies Heimatland zurückkehren werde. (Ich las diesen Bericht in den Fünfzigern und kann zu meinem großen Bedauern die genaue Quelle nicht ausfindig machen und mich nicht an den Namen des Schriftstellers erinnern.)
In ähnlicher Weise wurde von CBS eine Dokumentation unter dem Titel „Die Palästinenser“ erstellt und am Samstag, 15. Juni 1974, ausgestrahlt. Darin wurde ein wohlhabender Geschäftsmann, der vor dem Terror der Zionisten in Palästina geflohen war, in seinem äußerst eleganten Haus in Beirut interviewt. Als er an sein Glück im Exil erinnert wurde, lächelte er und zeigte auf eine kleine Flasche, die halb mit Erde gefüllt war. Betonend ergänzte er, dass er sie, als er floh, aus Jerusalem mitbrachte und dass sie ihm wertvoller sei als sein gesamter Besitz, und dass er all seine Besitztümer aufgeben würde, um nach Palästina, in sein Heimatland, zurückkehren zu können. Noch bezeichnender an diesem Interview ist, dass die Familie dieses Mannes noch emphatischer war und noch stärkere Gefühle zum Ausdruck brachte. Es wäre keinesfalls überraschend, wenn sich zeigen würde, dass dieser Mann viele andere seinesgleichen repräsentiert und dieser kleine „Erdschatz“ in den kommenden Jahren zu einer sehr besonderen oder sogar ehrwürdigen Sache wird.
In nach handfesterem Sinn berichtete die Associated Press am 14. Oktober 1973, dass „die letzten israelischen Stellungen am Ostufer des Suezkanals kapitulierten… und 37 erschöpfte und tropfnasse Soldaten in Schlauchbooten über den Wasserweg in die Gefangenschaft gepaddelt wurden… Einige ägyptische Soldaten ließen sich von den Gefühlen hinreißen, endlich diese letzte Stellung (die Bar-Lev Linie) erobert zu haben, griffen Händevoll Sand auf und nahmen ihn in den Mund. Andere küssten den Boden.“ (Dispatch Observer, Seite 2A). Kürzlich berichtete dieselbe Nachrichtenagentur von zurückkehrenden syrischen Kriegsgefangenen, dass der erste Mann, der das Flugzeug verließ, „…aufrecht auf einer Bahre auf den Stümmeln seiner amputierten Beine saß… und rief: Beine sind nichts! Wir sind bereit unsere Seelen zu geben…! Er bestand dann darauf, von seiner Bahre gehoben und auf den Boden gesetzt zu werden, damit er sich hinunterbeugen kann, um den Boden zu küssen.“ (Dispatch Observer, 2. Juni 1974, Seite 3A).
Die Geschichte des Schwarzen Steins sollte aus dieser menschlichen Perspektive betrachtet werden! Und im Lichte derartiger menschlicher Erlebnisse unter außergewöhnlichen Bedingungen ist sie am besten zu verstehen.
Abschließende Anmerkungen zum Haddsch
Der Besuch des Grabes des Propheten Muhammad in Madina ist keine unerlässliche Pflicht für einen gültigen und vollständigen Haddsch. Für jeden, der nach Madina gelangen kann, ist es jedoch stets ratsam und nachdrücklich zu empfehlen, das Prophetengrab zu besuchen, um dem großartigsten Lehrer, den die Menschheit jemals kannte, Respekt zu zollen.
Man sollte daran denken, dass der Höhepunkt des Haddsch durch die Opfergabe gekennzeichnet ist! Ein Opfer um Allâhs willen, um den Abschluss dieses hingebungsvollen Ritus zu feiern und die Armen zu speisen, damit diese die allgemeine Freude des Îd-Tages spüren können. Diese Pflicht wird nicht nur von den Haddschis erfüllt, sondern von allen bemittelten Muslimen in allen Teilen der Welt.
Eine letzte Anmerkung bezieht sich auf die Frage des Opferns und dessen wirkliche Bedeutung. Wie bereits bei der Erörterung der Îds erwähnt, ist es nicht das Fleisch oder das Blut, das Allâh zufriedenstellt. Es ist der Ausdruck von Dankbarkeit Ihm gegenüber, die Bestätigung des Glaubens an Ihn, das historische Ereignis, als dem Propheten Abraham angeordnet wurde, seinen Sohn zu opfern - eine Anordnung, zu deren Erfüllung Vater und Sohn bedingungslos bereit waren. Doch der Sohn wurde verschont und durch einen Widder ersetzt. Das Opfern wurde zu einer alljährlichen Feier des Gedenkens dieses Anlasses und der Dankbarkeit für Allâhs Gunsterweise.
Abschließende Anmerkung zur Glaubenspraktizierung
Wir erinnern die Leser nochmals daran, dass es zwischen den verschiedenen Rechtsschulen kleinere Interpretationsunterschiede hinsichtlich einiger Details bei der Verrichtung des Gebets, des Fastens, der Almosen und des Haddsch gibt. Allerdings ist es zulässig, einer der authentischen Schulen zu folgen.
Die Pilgerfahrt (der Haddsch) - Teil 1