Vom Gewand der Gottesfurcht: Wovor fürchten wir uns? Teil 2

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Taqwâ ist das Mittel, mit dem wir die Angst vor anderen überwinden. Körperliche Nacktheit fühlt sich ähnlich an wie die Nacktheit, die wir fühlen, wenn wir in Gefahr sind, gesehen zu werden. Taqwâ bringt uns also vom Dunyâ-Bewusstsein zum Gottesbewusstsein. Bei Taqwâ geht es darum, sich um die allsehende und nährende Schau Gottes zu bemühen und sie anzunehmen. Auf andere Weise ist Taqwâ selbst eine Art von Furcht. Allâh hat uns zu Geschöpfen gemacht, die glücklich, traurig und ängstlich werden, und Taqwâ ist in diesem Sinne sowohl ein Mittel als auch ein Zweck, von und für die menschliche Fähigkeit der Furcht. Unsere Furcht sollten wir nicht auf Achterbahnen, bei Gruselfilmen oder wegen der Meinungen und Handlungen anderer Menschen vergeuden. Unsere Fähigkeit, Furcht zu empfinden, ist für Ibâda und Anbetung. Dies wird unsere Furcht in etwas viel Höheres umwandeln; in etwas, das für unser erhabenes Ziel weitaus besser geeignet ist: Es geht um die Amâna, das Vertrauen, das Allâh in den Menschen gelegt hat.

Allâh erwähnte dies, als der Satan versuchte, uns (bzw. unsere Vorfahren) zu täuschen und uns sie in die Irre zu führen. Der Versuch, ihn aus eigener Kraft zu besiegen, ist zwecklos: „Gewiss, er sieht euch, er und sein Stamm, von wo ihr sie nicht seht“ (Sûra 7:27). Wir erleben also einen psychologischen Angriff, der mit all unseren unterbewussten Wünschen und Potenzialen spielt. Und dies ist ein riesiger Bereich der modernen Psychologie: das Studium des Unterbewussten. Bedenkt, was heute überall um uns herum geschieht. Wir werden mit Millionen Botschaften traktiert, die uns dazu aufrufen, unsere verborgenen Wünsche mit unendlichen Mitteln hervorzulocken: Von Leuten, die „unverschämt sexy“ sind, bis zu „sündhaft leckerer“ Schokolade. Das Traurige ist, dass die Menschen seit Sigmund Freud dieser Verführung des Unterbewussten in großem Stil erlegen sind.

Ein kurzer Blick darauf, wie die Menschen ihr Leben einschätzen und was sie über den Sinn ihres Daseins denken, enthüllt, dass viele Religion als unnötig betrachten. Sie gehen davon aus, dass der Mensch ein Tier sei, das nach Reichtum, Macht und sexueller Befriedigung strebe. Ein guter Teil davon ist sicherlich der Tatsache zuzuschreiben, dass die Menschen Gott und Seine Botschaft ablehnen. Aber ein größerer Teil ist definitiv darauf zurückzuführen, dass sie das Gewand der Taqwâ verleugnen: Alles, was ihnen bleibt, ist menschliche Nacktheit und Unvollkommenheit.

Allâh teilt uns mit, dass der Satan über tiefen psychologischen Einblick in uns verfügt. Er wird ständig versuchen, uns zu täuschen. Er ist ein ständiger Begleiter derer, die sich von Allâh wegführen lassen: „Wir haben die Satane zu Schutzherren für diejenigen gemacht, die nicht glauben“ (Sûra 7:27).

Wenn wir uns achtlos und ohne Ziel in einer Kultur bewegen, die das Gewand der Taqwâ nicht wahrhaben will und die sich nicht vor ihren eigenen Begierden und Schwächen schützt, bereiten wir uns auf unser eigenes Scheitern vor. Wir sind dann eine wandelnde Zielscheibe für den Satan und leichte Beute für ihn.

Wenn wir in eine solche Umgebung eintauchen und versuchen, unser Ziel allein zu erreichen, während wir gleichzeitig von materiellen Genüssen, materialistischen Vorgaben und einer schwindenden spirituellen Wahrnehmung umhüllt sind, laufen wir Gefahr, uns selbst zu täuschen: Wir misstrauen der Existenz des Unsichtbaren. Wir müssen vorsichtig sein, denn der Gedanke, dass uns ein bestimmtes unangemessenes Verhalten vielleicht doch nützlich sein könnte und die Suche nach der Gesellschaft von Leuten, deren Herzen tot sind, sind sichere Anzeichen dafür, dass wir die Grenze bereits überschritten haben. Wer sich an diesem Punkt befindet, der gehört zu denen, die in Angst vor der Dunyâ leben. Sie sind nur noch damit beschäftigt, nutzlose Feigenblätter für sich selbst zusammenzunähen. Sie geben sich mit dem Zweitbesten zufrieden, denn sie haben die Gewänder der Taqwâ verloren.

Wenn wir in unserer Seele nachforschen und untersuchen, was wir am meisten fürchten, werden wir eine typische Ansammlung von Themen finden: Geld, Arbeitsplatz, öffentliche Meinung etc. Eigentlich ist nichts Falsches an diesen Dingen, solange wir eine Hierarchie aufstellen: Ganz oben ist die Taqwâ vor Allâh als ein rechtleitendes Licht. Auch wenn wir dies im Moment nicht wirklich verstehen sollten, ist es ungemein wichtig, diese Stufenfolge klar zu erkennen – intellektuell und in praktischer Hinsicht. Wenn wir das tun, werden wir eine positive Veränderung in unserer Einstellung wiederfinden. Machen wir dies regelmäßig, so führt es uns zu einem wiederkehrenden Gedenken an Allâh. Das wiederum ist eine Gelegenheit für uns, den Willen Allâhs über jede schädliche Handlung zu stellen, da uns immer diese Hierarchie in den Sinn kommt. Wenn wir das oft genug wiederholen, fällt es uns leichter, unsere menschlichen Schwächen zu erkennen. Wir glauben mehr an uns selbst und an unsere Menschenwürde. Damit wird uns ein Schutzschild garantiert, den Allâh für die Gläubigen bestimmt hat. Denn Er will, dass wir uns einen solchen Schild von Ihm wünschen.

Dieser Schild wird sich letztendlich in einen stabilen Charakter verwandeln, der uns hilft, unsere Taqwâ noch weiter auszubauen, und das hilft uns, Allâhs Grenzen auf natürliche Weise zu erkennen, zu lesen und zu wahren. Das sichert uns Frieden und Glück, nicht nur im Diesseits, sondern – was noch wichtiger ist – wenn wir das zukünftige Leben erreichen. Dort werden wir feststellen, dass die Gewänder unserer Taqwâ aus dem Diesseits im Paradiesgarten zu feiner Seide geworden sind und zu Gold und Perlen der Ewigkeit, mit denen uns Allâh, der Mächtigste und Großartigste, überschütten will.

Es war ein unschuldiger Junge, der in unserer Geschichte den tyrannischen König auf seine Torheit hingewiesen hatte. Er stand außerhalb der herrschenden sozialen Konventionen in Verbindung mit seiner eigenen Fitra, der natürlichen Anlage des Menschen. Erinnern wir uns, dass der Prophet (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) uns aufgezeigt hat, wie diese falschen Konventionen unser wahres Selbst entstellen können. Lasst uns herabsteigen von unserem Thron der Achtlosigkeit und Verblendung hinein in diese Reinheit der Fitra, die Gott in uns gelegt hat. Lasst sie uns annehmen und hegen, bis wir sterben und auferstehen.
 

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