Den Qurân leben – Teil 4

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Viele Hindernisse halten Muslime jedoch oft vom Qurân fern. Manchmal wird der Qurân um einer sinnlosen Lobhudelei oder eines seichten Spiritualismus willen abgewertet. Im Islâm geht es nicht nur darum, Gedichte oder Loblieder für den Propheten oder Gott zu schreiben. Das ist einfach. Christen und andere tun das auch. Selbstverständlich werden wir Muslime ebenfalls Loblieder schreiben, das steht außer Frage. Was uns aber von anderen Religionen unterscheidet: Wir lieben unseren Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) dadurch, dass wir der Wahrheit folgen, die er uns überbracht hat.

Für viele beschränkt sich die Liebe zum Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) auf Gedichte oder das Feiern seines Geburtstags. In ähnlicher Weise beschränkt sich die Liebe der meisten Christen zu Jesus auf Autoaufkleber und Weihnachten. Um einige Beispiele zu nennen: Für einige Christen ist Jesus lediglich Mittel zum Zweck für eine humanitäre Wohltätigkeit, für andere wiederum eine zentrale Figur in einem theologischen Kampf, um den einen oder anderen Aspekt der Trinität zu beweisen. Dies alles ist fern von der eigentlichen Lehre Jesu, fern von der Anbetung des einen Gottes, unabhängig davon, welche ausgefallenen Bezeichnungen man dafür verwendet und wie leidenschaftlich man bei der Sache ist. Hierbei handelt es sich um die Krankheit verhärteter Herzen gegenüber Gott, die bereits oben in einem Qurânzitat erwähnt wurde. Herzen verhärten sich, auch wenn sie für humanitäre Anliegen oder Ideale weich sein mögen. Allerdings haben Christen keine Möglichkeit, die eigentliche Lehre Jesu und seines Herrn in Erfahrung zu bringen; wir Muslime schon.

Manchmal wird der Qurân für mystische Erfahrungen mit Gott genutzt. Im Islâm geht es nicht darum, irgendwelche übernatürlichen Bewusstseinsebenen oder mystische Trancezustände zu erreichen. Alle Religionen – einschließlich nichtreligiöser Volkstraditionen – behaupten solche Zustände. Buddhisten haben keinen Gott, sind aber die „geheimnisvollste und spirituellste“ aller Religionen. Auch von uns Muslimen wird nicht verlangt, dass wir mentale Kunststücke vollbringen oder bedeutungslose Worte wiederholen, bis unsere Kräfte versagen und wir anfangen zu halluzinieren und diese Halluzinationen als Visionen der Realität ansehen. Der Weg des Islâm ist der Dhikr des Qurâns: das Gedenken an Allâh. Das heißt, Bewusstsein, Wissen, Disziplin und Liebe zu Gott begleiten uns ständig. Doch unsere Liebe erfordert etwas Besonderes von uns: „Sag: Wenn ihr Allâh liebt, dann folgt mir. So liebt euch Allâh und vergibt euch eure Sünden. Allah ist Allvergebend und Barmherzig“ (Sûra 3:31). Die qurânische Art des Gedenkens ist ganzheitlich: Seele, Körper und Geist nehmen daran teil und werden allesamt durch das Gedenken an Allâh erhöht. Viele Muslime sind jedoch in der Vergangenheit Opfer einer sog. direkten Inspiration geworden: Anstatt über die Lehren des Qurân nachzudenken und sich ihnen zu unterwerfen, haben Menschen immer wieder neue Offenbarungen als Teile von mystischen Visionen oder esoterischen Lehren behauptet und damit impliziert, dass der Qurân für sie unzureichend sei. Der Qurân spricht über dieses Ansinnen: „Und diejenigen, die nicht Bescheid wissen, sagen: ‚O würde Allâh doch zu uns sprechen oder käme zu uns ein Zeichen!‘ Dergleichen Worte führten schon diejenigen, die vor ihnen waren. Ihre Herzen sind einander ähnlich. Wir haben die Zeichen klargemacht für Leute, die überzeugt sind“ (Sûra 2:118).

Gelegentlich wird die Beschäftigung mit dem Qurân im Namen der „Tradition“ geopfert, d. h. durch stumpfes Wiederholen tradierter Formeln, anstatt sich dem Qurân direkt zu nähern. Es gibt sogar einige Bräuche in der muslimischen Welt, die den einfachen Muslim davon abhalten, die Bedeutung des Qurân selbst zu verstehen, mit der Begründung, dass dies nur den Gelehrten vorbehalten sei. Mit zunehmender Bildung ist diese Haltung jedoch oft eher implizit als explizit. Aber im Islâm geht es nicht darum, Traditionen blind zu folgen. Tradition bedeutet wörtlich „das, was von einer Generation an die nächste weitergegeben wird“. Der Qurân begann die Menschheit zu reformieren, indem er die Behauptungen bestehender Traditionen entlarvte. In Wahrheit stellt der Qurân genau die Auffassungsweise in Frage, die einer blinden Tradition zugrunde liegt: „So haben Wir (auch) vor dir in eine Stadt keinen Warner gesandt, ohne dass diejenigen, die in ihr üppig lebten, gesagt hätten: ‚Wir haben ja (bereits) unsere Väter in einer bestimmten Glaubensrichtung vorgefunden, und auf ihren Spuren folgen wir ihrem Vorbild.‘ Er sagte: ‚Etwa auch, wenn ich euch bringe, was eine bessere Rechtleitung enthält als das, worin ihr eure Väter vorgefunden habt?‘ Sie sagten: ‚Wir verleugnen ja das, womit ihr gesandt worden seid‘“ (Sûra 43:24).

Traditionen sind nicht gänzlich abzulehnen, denn Traditionen beinhalten akkumulierte Weisheiten der Menschen. In gewisser Weise kann das Leben nicht ohne bestehende Traditionen weitergehen, die die Weisheit unserer Vorfahren überliefern und in unseren Kulturen verkörpert sind. Aber diese Bräuche und Traditionen beinhalten auch angehäufte Fehler und Falsches. Die Aufgabe besteht darin, die Bräuche ständig gemäß der Wahrheit von Allâh zu überprüfen. Es ist zu vermeiden, dass wir unseren Umgang mit dem Qurân unseren Traditionen und vorgefassten Meinungen unterordnen.

Einige postmoderne Denker und ihre verblendeten Anhänger unter den Muslimen behaupten, dass es nicht möglich sei, in einem Text etwas anderes zu lesen als die bereits bestehenden Meinungen und Ansichten. Aber während unser Erlerntes sicherlich ein wesentlicher Bestandteil bei der Lesart eines Textes ist, das unsere Deutung sowohl bereichert als auch einschränkt, ist es absurd zu sagen, dass man sich nicht von seinen bisherigen Vorstellungen lösen kann. Denn würde man sich so verhalten, könnten die Christen die Trinitätslehre in den Qurân hineinlesen und die Buddhisten den Atheismus.

Diese Behauptungen sind sowohl rational absurd als auch vom Qurân explizit zurückgewiesen, denn der Qurân enthält sowohl „Rechtleitung“ als auch „klare Beweise der Rechtleitung“. Wie wir gleich sehen werden, kann der Qurân, wenn er richtig gelesen wird, kranke Herzen und Gemüter heilen und falsche Annahmen korrigieren, solange man mit einem Hauch von Demut an ihn herangeht.
 

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