Farbe wieder sehen lernen – Teil 2

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Die Hände in meiner blauen Jeans vergraben, dachte ich darüber nach, während ich auf den scheinbar ewigen Teppich aus Wiesen, Weiden und Kornfeldern hinausblickte. Wie Nähte, die der Schöpfer in die Jahreszeiten gestrickt hat, flossen ihre Farben in den Schoß des anderen. Das flachsfarbene Gold des Maises traf auf die hohen, grünen Halme des Wiesengrases und schien sie zu umarmen. Und das kalkfarbene Weidegras, das wie ein weicher Teppich unter der Ernte und der Wildnis floss, breitete seine großen Hände aus, um alle zu begrüßen, die über ihm standen. Dann, wie rot und orange gekleidete Kinder, umringten die herbstlich bedeckten Hügel diese natürlichen Muster, Hand in Hand. Überall mischten sich Farben und passten zusammen, webten und wickelten, verschmolzen und federten. Es war in diesem strahlenden Porträt, dass ich die Antwort verstand, auf die ich gewartet hatte, die Erklärung, welche das Staunen befriedigte, den Fluss meiner Gedanken dämmte und die Neugier meiner Seele stillte.

Farbe ist der Schlüssel zur Vielfalt, und es ist die Vielfalt, die den mittleren Weg zum universellen Frieden markiert. Durch ihre Schattierungen, ihre vielen Gesichter, drücken die Menschen ihre inneren und äußeren Kulturen aus. Farbe übermittelt unsere Emotionen, wie wir uns fühlen. Wir neigen dazu, Schwarz und dunkle Farben zu traurigen Anlässen wie Beerdigungen zu tragen und Weiß oder helle Farben zu freudigen Ereignissen wie Hochzeiten. Sie bedeuten so viel für uns, und nach vielen Traditionen der alten Welt haben sie tatsächlich physiologische und psychologische Auswirkungen auf den Körper. Sie beeinflussen unsere Leidenschaft, unsere Spiritualität und unsere Identitäten.

Als der Schöpfer unserer Gestalt und der Farbgeber der Himmel und der Erde kennt Allâh unsere Sensibilität und unsere Empfänglichkeit für Farben sehr gut; Er weiß, wie sie uns definieren und wie sie uns voneinander unterscheiden. Denke darüber nach. Da Farbe unsere Identität repräsentiert, können wir leicht sehr wählerisch und eigenwillig werden. Als Menschen neigen wir dazu, unterschiedliche Farben zu wählen, diese um den Körper zu wickeln und unseren gesunden Menschenverstand in den Tiefschlaf zu schicken und dabei sagen: „Mein Land, mein Herkunftsort, mein Stamm.“

Solch eine Abgrenzung trennt und teilt Menschen. Wenn jeder Mensch mit seinen eigenen Farben wirbt. In einer Welt, in der Chandra nur Orange malt und alle anderen Farben ablehnt, und Ahmad Rot gegenüber den anderen Tönen des Farbspektrums bevorzugt, kann es nur Entfremdung und Uneinigkeit geben. Ahmad versteht Chandra nicht und fürchtet sich deshalb vor ihrer Wahl, und Chandra beschimpft Ahmad als Fremden, weil dieser kein Orange trägt. Da schweben wir auf unserer eigenen Farbpalette – der von uns – und so denken wir schlecht über den anderen, misstrauen uns. Ehe wir uns versehen, führen wir Kriege, wobei jede Seite versucht, Farbe über die Wand des anderen zu schleudern, um den Regenbogen in eine einheitliche Farbe zu färben.

Doch nach dem ersten heftigen Regenschauer, wenn unsere eigenen Farben verblassen und die dunklen Ideologien, mit denen wir Menschen dazu neigen, die Sonne zu verdecken, verschwunden sind, dann erscheint die ursprüngliche Wahrheit, die Allâh in die ganze Schöpfung gelegt hat, und der Qurân erstrahlt in einem Regenbogen aus vielen Farben. Mit seinen vielschichtigen Versen, welche die wundersame Farbenvielfalt der Welt bekräftigen, lehrt uns der Qurân, alle Schattierungen des Farbenrads zu respektieren und zu lieben. Er ermutigt uns, diese verschiedenen musikalischen Töne auszuprobieren: die kleine schwarze Taste dazwischen. Von den gestreiften Bergen bis hin zu den schönen, dunklen Hautfarben der Menschen entdecken wir den geheimen Charme hinter den kontrastreichen und verschmelzenden Landschaften der Natur. Diese dringt in unsere Herzen ein und zeigt uns, wie man die fröhliche emotionale Buntstiftbox aufpeppt und Grün, Lila, Gelb – vielleicht sogar Rosa – trägt.

Trotz unserer Unterschiede lernen wir wieder durch die leuchtende Rezitation des Qurâns in der reichsten dunkelbraunen Stimme, Farben zu sehen, in Harmonie zusammenzuleben, Regenbögen und Buntstifte wieder zu mögen – aus Freude an ihren farbenfrohen Variationen. Genau wie damals, als wir Kinder waren, mit unserer reinweißen Fitrâ, die noch nicht befleckt oder verblasst war.

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