Hoffnung und Angst im Gleichgewicht: Eine Perspektive für Muslime im Westen

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Der Islâm ist heute weltweit zunehmend im Kommen. Das ist ein wenig paradox, aber eine unbestreitbare Tatsache. Der Islâm ist sowohl in der muslimischen Welt als auch im Westen auf dem Vormarsch. Wer über den Tellerrand hinausblickt und die trügerische Fassade der Medien und die Arroganz der Macht hinter sich lässt, kann diese Entwicklung deutlich erkennen.

Es ist jedoch vielleicht irreführend zu sagen, dass der Islâm auf dem Vormarsch ist, als ob er einen eigenen Willen und eigene Mechanismen hätte, um zu wachsen. Das tut er nicht. Es sind seine Träger, seine Anhänger, d. h. Muslime, die ihn voranbringen. Dies ist die Sunna Allâhs (unveränderliche Gesetzmäßigkeiten Allâhs, AdÜ). Wenn eine bestimmte Gruppe von Muslimen in ihrer Aufgabe versagt, werden sie ermahnt, getadelt, aufgerüttelt und sogar ersetzt. Dennoch sind es die Gläubigen – egal von welcher Strömung –, die diese Aufgabe weiterführen: „O die ihr glaubt, wer von euch sich von seiner Religion abkehrt, so wird Allâh Leute bringen, die Er liebt und die Ihn lieben, bescheiden gegenüber den Gläubigen, mächtig (auftretend) gegenüber den Ungläubigen, und die sich auf Allâhs Weg abmühen und nicht den Tadel des Tadlers fürchten. Das ist Allâhs Huld, die Er gewährt, wem Er will. Allâh ist allumfassend und allwissend“ (Sûra 5:54).

 

 

Das richtige Maß

Das Gefühl einer großen Hoffnung, die sich auf eine feste Überzeugung und eine weitsichtige Vision stützt, ist vollkommen gerechtfertigt und in der Tat notwendig für Muslime, um ihren Einsatz für Allâhs Dîn fortzusetzen. Allâhs Buch und die Überlieferungen Seines Gesandten sind voll von Verheißungen guter Tage, die kommen werden – Tage des Sieges für die Wahrheit und die Gläubigen. Diese Ankündigungen sind, wie alle anderen universellen Aussagen des Qurâns und der Hadîthe, für jede Gruppe von Gläubigen für immer wahr. Der Glaube an diese Verheißungen ist der Glaube an Allâh und Seine Botschaft.

Diese berechtigte Hoffnung darf uns jedoch niemals blind machen für die Gefahren und Schwierigkeiten, die vor uns liegen, noch darf sie uns dazu bringen, die unüberwindbaren Gesetzmäßigkeiten (Sunan) Allâhs zu vernachlässigen. Die Hoffnung muss immer durch Vorsichtsmaßnahmen ausgeglichen werden. Muslime sollten weder pessimistisch noch übertrieben optimistisch sein. Die richtige Balance besteht darin, in jeder Hinsicht realistisch zu sein: Das Kamel wird festgebunden und dann wird auf Allâh vertraut. Dabei wissen wir, dass Allâhs Hilfe an unsere aufrichtigen Bemühungen geknüpft ist. Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie, sagt K. Lewin (1945). Diese ausgewogene Denkweise ist in der Tat der Weg zu einem fruchtbaren und wirksamen Handeln.

 

 

Muslime im Westen: Pessimismus vs. Optimismus

Was beispielsweise die Zukunft des Islâms im Westen angeht, so sind die Muslime im Westen heute gespalten zwischen allzu pessimistischen Sichtweisen auf der einen Seite und allzu optimistischen Meinungen auf der anderen. Die Pessimisten und die Zyniker vertreten die Ansicht, Muslime hätten einen Tiefpunkt in ihrem Glauben erreicht und seien in Machtfragen völlig unterlegen; alle Nichtmuslime seien arrogante, verblendete und unverbesserliche Feinde des Islâms. Die Offenheit vieler nichtmuslimischen Nachbarn, ihre Unterstützung für die Menschenrechte der Muslime und ihre Bereitschaft, den Islâm zu akzeptieren, wenn er im richtigen Licht dargestellt wird, werden von den Pessimisten nicht beachtet. Werden solche Ansichten auf die Spitze getrieben, führen sie zu Hoffnungslosigkeit, Fanatismus, Verzweiflung und manchmal sogar zu Unglauben.

Die Optimisten hingegen denken, dass die Menschen im Westen allesamt das Wort Allâhs annehmen werden, sobald sie es hören – diese Menschen kennen oder verstehen den Islâm einfach nicht. Die lang ersehnte friedliche Koexistenz zwischen der islâmischen Welt und dem Westen sei eine klare Bestimmung, da die Muslime und einige verständnisvolle Westler dies so wünschen. Nur weil wir keinen Kampf der Kulturen wollen, heißt das nicht, dass er nicht existiert – er findet bereits statt, und wir sind im Kreuzfeuer des Geschehens geraten. Ihn zu leugnen ist nicht realistisch. Amerika zum Beispiel ist nicht einfach nur eine reife Frucht, die darauf wartet, vom Islâm gepflückt zu werden. Vielmehr hat es eine andere Kultur, eine eigene Art des Denkens und eine Zivilisation, die vor allem auf zwei Strängen komplexer Traditionen beruht: Die griechisch-römische Tradition auf der einen Seite und das jüdisch-christliche Erbe auf der anderen.

Die im Westen vorherrschende Lebensphilosophie, der säkular-humanistische Kapitalismus, steht in direktem und in vielerlei Hinsicht unüberbrückbarem Widerspruch zum Islâm. Der Islâm ist in erster Linie theistisch, wobei der Mensch Träger eines Vertrauens und einer Ehre gegenüber Allâh ist. Obwohl die beiden Lebensphilosophien grundsätzlich im Widerspruch zueinanderstehen, bedeutet dies nicht, dass sie nicht in der Welt oder sogar im selben geografischen Raum koexistieren können. Es ist sogar möglich, dass der islâmische Glaube das säkulare Denken auf friedliche Weise, durch Dialog und Argumente, beeinflusst und überzeugt. Beide koexistieren in der Tat bereits, wenn auch mit Konflikten und Missständen, sowohl im Westen als auch in der muslimischen Welt. Die säkulare Philosophie ist jedoch heute vorherrschend, selbst in der Mehrheit der muslimischen Länder.

 

 

Der Islâm überzeugt in einer friedlichen Atmosphäre des Dialogs und des Austauschs

Was die friedliche Koexistenz zwischen dem Islâm und dem Westen den Muslimen verspricht, ist ein faires Spielfeld der Ideen. Anstelle von militärischen Konflikten, Besatzung oder Kolonisierung sollten die Muslime sehr froh sein, sich an einer Debatte über Ideen, Fakten, Intellekt und vernünftige Prinzipien für die Menschheit zu beteiligen. Nichts ist besser für das Gedeihen als eine friedliche Atmosphäre des Dialogs und des Austauschs.

Nirgendwo wird dies deutlicher als im Vertrag von Hudaibiyya, als der Gesandte Allâhs einige vermeintlich erniedrigende Bedingungen im Austausch für diese Atmosphäre des Friedens und der Verhandlung akzeptierte. Selbstverständlich war dies kein Kompromiss im Glauben, sondern nur ein materieller Nachteil für die Muslime, der sich später als großer Vorteil herausstellte.

 

 

Das Übel und die Heuchelei erkennen

Wir dürfen uns jedoch nicht der Illusion hingeben, dass die andere Seite – die Feinde der Wahrheit – einfach still dasitzen und darauf warten werden, dass wir das Wort Allâhs verbreiten oder unsere Lebensphilosophie erklären. Eine realistische Betrachtung unserer Situation erfordert, dass wir uns des Ausmaßes des Bösen und der Macht der Tâghût, der Feinde Allâhs und des Islâms, in der Welt bewusst sind. Wir müssen also unterscheiden zwischen den einfachen Nichtmuslimen, die lediglich nichts über den Islâm wissen, und jenen, die den Glauben eindeutig ablehnen, nachdem ihnen die Wahrheit klar geworden ist, und somit im Qurân als Glaubensverweigerer bezeichnet werden. Zu einer realistischen Sichtweise gehört, dass wir die Zunahme der Heuchelei unter den Muslimen in diesen schwierigen Zeiten erkennen und sogar antizipieren. Es gab unter den Muslimen vor uns Menschen, die Allâhs Zeichen für einen geringen Preis verkauft haben – diese weilen auch unter uns. Das ist nachvollziehbar, vor allem, wenn es nicht leicht ist, ein wahrer Gläubiger zu sein, während es sich kurzfristig lohnt, ein Verräter und Heuchler zu sein. Die Behauptung,

·       -  Muslime seien schlecht, intolerant, gewalttätig oder

·       - die islâmische Lehre sei verloren und abgewichen oder

·       - die islâmischen Gelehrten seien rückständig und engstirnig,

·   - und das neue Islâmverständnis müsse friedlich und ohne Rückgrat sein und den Wünschen der Tâghût entsprechen,

ist die profitabelste und politisch korrekteste Linie, die man heutzutage vertreten kann. Von Moscheeleitern bis hin zu muslimischen Akademikern im Westen wetteifern viele miteinander, um sich bei den Machthabern beliebt zu machen. Und das ist keine Überraschung.

Nicht jede Kritik an Muslimen ist heuchlerisch.

Es wäre jedoch völlig ungerecht und falsch zu sagen, dass Menschen – ob Muslim oder nicht –, die eine andere Meinung vertreten und Muslime oder einige muslimische Traditionen kritisieren, Heuchler oder Verräter sind. Selbst bei heftiger Kritik existieren oft einige wertvolle Einsichten, die wahrhaft gläubige Muslime beachten und daraus lernen sollten. Weisheit ist das verlorene Gut eines Gläubigen; er nimmt sie von dort, wo er sie findet. Wir erinnern uns an folgendes prophetische Wort: „Allâh verhilft dieser Religion auch durch Frevler zum Sieg!“ (Al-Buchârî).

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