Ist Religion eigentlich noch zeitgemäß? TEIL 3

380 27

Gott ist als Wesen zu wichtig und zu transzendent, als dass man ihn nur durch Eindrücke verstehen könnte. Vielmehr ehrt Gott die Menschen und erweist ihnen Sein Wohlwollen, indem Er durch klare Offenbarung zu ihnen spricht. Spirituelle Praktiken müssen die Entwicklung eines besseren Menschen fördern. Ihre eigentliche Aufgabe besteht darin, uns dabei zu helfen, uns um unsere Seelen zu kümmern, indem wir sie von unseren Sünden reinigen, anstatt uns lediglich dabei zu beflügeln, ozeanische Gefühle der Gelassenheit zu erleben und uns gut zu fühlen. Für letzteres gibt es „schnelle Lösungen“, wie Beruhigungsmittel oder Narkotika.

Spiritualität ist nicht nur eine simple Idee der Ablehnung des Materialismus, sondern ein realer Weg, Gott selbst zu gefallen und sich mit Ihm zu verbinden. Gott ist eine echte, inhärente Wertquelle. Er hat es verdient, dass wir eine Verbindung mit Ihm anstreben – und nur durch diese Verbindung wird unser Leben wirklich erfüllt und finden unsere Herzen wahre Zufriedenheit.

In ihrer Abneigung gegen „organisierte“ oder „institutionalisierte“ Religionen übersehen viele dieser spirituellen Neinsager, dass man bei eifrigem und konsequentem Streben nach einer spirituellen Verbindung mit dem Göttlichen nicht umhin kommt zu erkennen, dass spirituelle Praktiken unweigerlich dazu neigen, routiniert und organisiert zu werden. Dies geschieht, wenn sich diese Praktiken im Laufe der Zeit bewährt haben und in den Augen der Praktizierenden einen wirksamen Beitrag zur spirituellen Entwicklung zu leisten scheinen.

 

Sind religiöse Riten veraltet und rückständig?

Im Islâm ist die Anbetung eine ganzheitliche Lebensweise, die über Riten hinausgeht. Ibn Taimiyya sagte: „Anbetung (Ibâda) ist ein umfassender Begriff, der alles einschließt, was Allâh liebt und woran Er Wohlgefallen findet, seien es Worte oder Handlungen, sowohl äußerlich als auch innerlich“ (Madschmû Al-Fatâwâ). Ob wir nun unseren Eltern gegenüber gehorsam sind, Almosen geben, Kranke besuchen, anderen helfen, verwandtschaftliche Beziehungen pflegen, in unseren Geschäften ehrlich sind, für Unterdrückt eintreten, Hungernd speisen oder die Umwelt schützen: Anbetung ist jede Handlung, die Allâh liebt, wenn sie mit der richtigen Absicht ausgeführt wird, Ihm zu gefallen. Religiöse Riten sind ein wesentlicher Aspekt der Anbetung im Islâm. Manche halten die Vorstellung von Riten für archaisch, aber diese Einstellung ist, gelinde gesagt, merkwürdig.

Riten sind in gewisser Weise mit Routinen vergleichbar, aber im Gegensatz zu Routinen, bei denen es sich in der Regel um Aufgaben handelt, die wir wie Gewohnheiten betrachten (z. B. frühstücken, bevor man zur Schule geht, das Bett machen, nachdem man aufgewacht ist usw.), haben Riten einen sinnvolleren Zweck. Für uns stellen sie eine wichtige Aufgabe dar, die wir nicht einfach nur abhaken, sondern bewusst wahrnehmen wollen. Es sind keine simplen Gewohnheiten, vielmehr verlangen sie unsere Aufmerksamkeit und bewusste Anwesenheit. Bei der Durchführung dieser Riten sollte ein gewisses Maß an Absicht, Tatkraft, Hingabe und Energie vorhanden sein. Wenn diese Riten durchgeführt werden, ohne verstanden und gewürdigt zu werden, werden sie zu lästigen Aufgaben, auf die wir lieber verzichten würden.

Das Problem ist hier nicht der Ritus, sondern das Verständnis hierfür und wie es durchgeführt wird. Wir befolgen Rituale in vielen Bereichen unseres Lebens, und wir tun dies, weil sie sehr wertvoll sind. Rituale sind zum Beispiel sehr nützlich, um eine Unternehmenskultur zu verbessern, indem sie Verbindungen und starke Gewohnheiten schaffen, das Engagement der Mitarbeiter erhöhen und Kontinuität, Einarbeitung und Schulung erleichtern. Die Forschung hat auch gezeigt, dass Rituale die Trauer wirksam lindern, indem sie den Menschen helfen, mit dem Tod eines geliebten Menschen fertig zu werden, Ängste abzubauen und das Selbstvertrauen vor der Erfüllung von Aufgaben zu stärken, indem sie Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen positiv beeinflussen. Wir führen auch Rituale durch, um unserem Alltag Struktur und Ordnung zu geben, um freudige Anlässe zu feiern, um historischen Ereignissen zu gedenken, um mit unserer Vergangenheit verbunden zu bleiben, um die gemeinschaftliche Identität zu erhalten, indem wir durch gemeinsame Praktiken Bindungen schaffen, um wichtige Ereignisse und Phasen in unserem Leben zu markieren usw.

Wenn Rituale in verschiedenen Bereichen unseres Lebens so wirksam und vorteilhaft sein können, warum ist es dann so schwierig, ihre positive Kraft auch im Bereich des religiösen Lebens zu begreifen? Aus islâmischer Sicht haben die Muslime ausführlich über die tiefgreifenden spirituellen, physiologischen und gemeinschaftlichen Vorteile geschrieben, die den Riten wie der Salâ, dem Fasten, der Haddsch usw. zugrunde liegen. Um diesen Artikel kurz zu halten, werde ich hier nicht näher darauf eingehen, aber die Beschreibung dieser Riten sind nur eine Google-Suche entfernt für jeden, der mehr wissen möchte.

Zweifellos verlieren diese Riten ihren Nutzen und ihre Bedeutung, wenn jemand sie gedankenlos als bloße Gewohnheiten praktiziert und lediglich die Bewegungen der Riten durchführt. Man kann jedoch nicht die Idee der Riten selbst für die falsche Geisteshaltung einiger derjenigen verantwortlich machen, die sich an ihnen beteiligen. Sicherlich gibt es viele schädliche Praktiken, wie z. B. die Selbstgeißelung. Doch wäre es fair, alle Riten zu verurteilen, nur weil es einige schädliche gibt? Sicherlich sollten wir es vermeiden, einen solchen Trugschluss zu begehen. Kurz gesagt, die Vorstellung von Anbetungsritualen ist keineswegs irrational oder archaisch.

 

Ist Religion also veraltet?

Als Muslim, der den Islâm für die einzig wahre Religion hält, verteidige ich sicherlich nicht alle Religionen, Glaubensbekenntnisse und Praktiken, sondern nur den Begriff der Religion selbst. Ich glaube nicht, dass alle Vorteile, die der Religion zugeschrieben werden, von allen Religionen positiv vorgelebt werden und auf alle Religionen zutreffen. Darüber hinaus glaube ich, dass theistische Religionen (z. B. Islâm, Christentum usw.) als Konzepte im Vergleich zu nicht-theistischen Religionen (z. B. Buddhismus) wesentlich vorteilhafter sind, insbesondere wenn erstere einen viel solideren theologischen Rahmen bieten, der die spirituelle Praxis untermauern kann. Als Muslim würde ich sogar noch weiter gehen und argumentieren, dass der Islam allen Religionen überlegen ist.

Religionen als Ganzes bieten einen viel besseren Kontext, in dem geistige Pflege und Wachstum stattfinden können. Populäre „Do-it-yourself“-Spiritualität ist, wie oben erörtert, keine richtige Spiritualität, da ihr ein kohärenter theologischer Rahmen fehlt, der sie untermauert. Die Bedeutung der Religion ist nach wie vor gegeben und wird es auch in Zukunft sein. Diejenigen, die für ihre Irrelevanz und Überholtheit plädieren, werden aufgefordert, ihren Standpunkt gründlich zu überprüfen.

Verwandte Artikel