Die Grenzen der Nachbarschaft
Der Begriff „Nachbar“ wird von Gelehrten unterschiedlich interpretiert. Beschränkt sich die Nachbarschaft auf das eigene Haus oder erstreckt sie sich auf alle Nutzer gemeinschaftlicher Einrichtungen wie der Moschee? Einige Überlieferungen deuten auf einen Kreis von vierzig Häusern hin. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass die Grenzen der Nachbarschaft von lokalen Gepflogenheiten abhängen.
In „As-Sunan Al-Kubrâ“ von Al-Baihaqî wird von Âischa (möge Allâh mit ihr zufrieden sein) überliefert, dass der Prophet (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagte: „Dschibrîl (Gabriel) hat mich ermahnt, dem Nachbarn (im Umkreis von) bis zu vierzig Häusern Güte zu erweisen: Zehn von hier, zehn von hier, zehn von hier und zehn von hier.“
In „Al-Mu’dscham Al-Kabîr“ von At-Tabarânî wird von Ka‘b ibn Mâlik überliefert: „Ein Mann kam zum Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) und sagte: ‚O Gesandter Allâhs, ich bin in die Nachbarschaft der Banû Soundso gezogen. Am meisten leide ich unter meinem nächsten Nachbarn.‘ Da entsandte der Gesandte Allâhs Abû Bakr, Umar und Alî mit dem Auftrag, zur Moschee zu gehen, dort am Eingang zu stehen und (folgende Botschaft) zu verkünden: ‚Wahrlich, vierzig Häuser sind Nachbarn. Nicht ins Paradies kommt derjenige, von dem der Nachbar Unheil befürchtet.‘“
Al-Ainî erklärt in „Umda Al-Qârî“: „Über die Grenzen der Nachbarschaft gibt es unterschiedliche Meinungen. Von Alî (möge Allâh mit ihm zufrieden sein) wurde überliefert: ‚Wer den Gebetsruf hört, ist ein Nachbar.‘ Es heißt auch: ‚Wer mit dir das Morgengebet in der Moschee verrichtet, ist ein Nachbar.‘ Âischa sagte: ‚Das Recht der Nachbarschaft erstreckt sich auf vierzig Häuser von jeder Seite.‘ Von Al-Auzâî wurde Ähnliches überliefert.“
Al-Qurtubî sagte: „Der Begriff ‚Nachbar‘ wird verwendet, um jemanden zu bezeichnen, der unter das Recht der Nachbarschaft fällt. Er wird auch für die Person verwendet, die im selben Haus wohnt. Dies ist die häufigste Bedeutung.“
Ist der Hadîth authentisch, so ist dies ein Beleg für die Grenzen der Nachbarschaft. Andernfalls richtet sich die Bestimmung der Nachbarschaft nach den jeweiligen lokalen Gepflogenheiten, wie Ibn Qudâma in seinem Werk „Al-Mughnî“ erläutert. Demnach gilt als Nachbar, wen die Menschen in der jeweiligen Gemeinschaft als solchen betrachten. Dieses Verständnis von Nachbarschaft bedarf jedoch einer Neubewertung, insbesondere mit den veränderten Wohnverhältnissen der Moderne, da die heutigen Gebäude sich von denen zur Zeit des Propheten unterscheiden und die Erfüllung der Pflichten gegenüber den „vierzig Häusern“ erschweren.
Umfassende Bedeutung des Nachbarn
Ibn Hadschar erklärt in „Fath Al-Bârî“: „Der Begriff ‚Nachbar‘ umfasst Muslime und Nichtmuslime, Anbeter und Sünder, Freunde und unliebsame Menschen, Fremde und Einheimische, Nützliche und Schädliche, Verwandte und Nichtverwandte, sowie nahe und entfernte Nachbarn. Es gibt verschiedene Stufen der Nachbarschaft. Der Nachbar mit der höchsten Stufe ist der Nachbar, der alle genannten Eigenschaften eines Nachbarn in sich vereint. Danach kommt der Nachbar, der die meisten Eigenschaften in sich vereint. Dies setzt sich fort bis zum Nachbarn, der nur eine einzige Eigenschaft in sich vereint. Das Gegenteil davon gilt für jemanden, der die anderen Eigenschaften in sich vereint. So erhält jeder sein Recht entsprechend seiner Situation.“
Ibn Hadschar zitiert dabei von Ibn Abû Dschamra eine schöne Bemerkung, die mit dem Recht des Nachbarn zusammenhängt: „Da der Prophet Muhammad die Rechte des Nachbarn so sehr betonte und uns aufforderte, sie zu achten und dem Nachbarn Gutes zu tun und alles zu unterlassen, was ihm schaden könnte, selbst wenn eine physische Barriere zwischen uns steht, sollten wir umso mehr die Rechte unserer ehrenwerten Schreiberengel achten. Denn diese begleiten uns immer und keine Barriere trennt uns von ihnen. Durch Sünden im Laufe der Zeit sollte man sie nicht verletzen. Die Überlieferungen besagen, dass sich unsere Schreiberengel über unsere guten Taten freuen und über unsere Sünden betrübt sind. So sollte man auf sie Rücksicht nehmen und ihre Gefühle beachten, indem man viele gottesdienstliche Handlungen verrichtet und sich von Sünden fernhält. Die Wahrung ihrer Rechte hat Vorrang vor vielen anderen Nachbarn.“
Die Lehre der Sunna über die Rechte des Nachbarn
Erstens: Keinen Glauben hat, wer das Recht des Nachbarn verletzt
Ein deutlicher Beleg für die herausragende Bedeutung des Nachbarrechts ist die Aussage in der Sunna, dass der Glaube eines Menschen in Frage gestellt wird, wenn er seinem Nachbarn Schaden zufügt, ihm nicht das Gute wünscht, das er sich selbst wünscht, oder seinen Nachbarn nicht vor seinem Verrat und seinem Übel bewahrt.
Im „Sahîh Muslim“ wird von Anas überliefert: „Der Gesandte Allâhs (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagte: ‚Bei Dem, in Dessen Hand meine Seele ist, kein Diener ist gläubig, bis er für seinen Nachbarn oder seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht.‘“
Im „Sahîh Al-Buchârî“ wird von Abû Schuraih überliefert, dass der Prophet (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagte: „Bei Allâh, er ist nicht gläubig, bei Allâh, er ist nicht gläubig, bei Allâh, er ist nicht gläubig.“ Man fragte: „Wer, o Gesandter Allâhs?“ Er antwortete: „Derjenige, dessen Nachbar nicht vor seinen Übeln (Bawâ’iq) in Sicherheit weiß.“ „Bawâ‘iq“ ist die Pluralform von „Bâ‘iqa“, was Ungerechtigkeit, Übel und Verderben bedeutet.
In den beiden Sahîh-Werken „Al-Buchârî und Muslim“ wird von Abû Huraira überliefert: „Der Gesandte Allâhs (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagte: ‚Wer an Allâh und den Jüngsten Tag glaubt, der soll Gutes reden oder schweigen. Wer an Allâh und den Jüngsten Tag glaubt, der soll seinen Nachbarn ehren. Und wer an Allâh und den Jüngsten Tag glaubt, der soll seinen Gast ehren.‘“
Im „Sahîh Al-Buchârî“ wird auch von Abû Huraira überliefert: „Der Gesandte Allâhs (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagte: ‚Wer an Allâh und den Jüngsten Tag glaubt, der soll seinen Nachbarn kein Leid zufügen.‘“
Wenn der Glaube in diesen Hadîthen aberkannt wird, so kann das nach den Exegeten bedeuten: Entweder hat derjenige keinen Glauben, weil er es für erlaubt hält, seinen Nachbarn zu verletzen, oder es soll implizieren, dass der Glaube eines solchen Menschen unvollkommen ist.
Die enge Verbindung zwischen dem Recht des Nachbarn und der Frage des Glaubens unterstreicht die enorme Bedeutung, die der Islâm der Nachbarschaft beimisst. Die Hadîthe, sowohl in ihrem Wortlaut als auch in ihrer Bedeutung, machen deutlich, dass die Erfüllung der Rechte des Nachbarn ein Indikator für einen vollständigen Glauben ist, während deren Verletzung auf einen unvollkommenen Glauben hindeutet.
Zweitens: Güte gegenüber den Nachbarn ist ein Zeichen von Rechtschaffenheit
Die Sunna lehrt uns: Wer seinem Nachbarn Gutes tut und Schaden von ihm abwendet, so sind diese Handlungen ein Zeichen dafür, dass er bei Allâh als rechtschaffen gilt. Dies ist ein prophetischer Maßstab, mit dem der Mensch sich selbst und andere an ihrem Verhalten gegenüber dem Nachbarn messen kann.
Im „Sunan At-Tirmidhî“ wird von Abdullâh ibn Amr überliefert: „Der Gesandte Allâhs (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagte: ‚Die besten Gefährten bei Allâh sind diejenigen, die am besten zu ihren Gefährten sind. Und die besten Nachbarn bei Allâh sind diejenigen, die am besten zu ihren Nachbarn sind.‘“
Als Beweis für die Rechtschaffenheit oder Schlechtigkeit eines Menschen machte der Prophet das Lob oder die Kritik seiner Nachbarn geltend. Im „Sunan Ibn Mâdscha“ wird von Ibn Mas’ûd (möge Allâh mit ihm zufrieden sein) überliefert: „Ein Mann fragte den Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken): ‚Gesandter Allâhs, wie kann ich wissen, ob ich Gutes oder Schlechtes getan habe?‘ Der Prophet antwortete: ‚Wenn du deine Nachbarn sagen hörst: »Du hast Gutes getan«, dann hast du Gutes getan. Und wenn du sie sagen hörst: »Du hast Schlechtes getan«, dann hast du Schlechtes getan.‘“
Der Hadîth bedeutet: Wenn alle seine Nachbarn ihn für seine Rechtschaffenheit loben, dann ist er gut und umgekehrt. Al-Harawî erklärt in „Marqâ Al-Mafâtîh Scharh Mischkâ Al-Masâbîh“ das Wort „deine Nachbarn“: „Damit sind alle Nachbarn gemeint, denn sie werden sich höchstwahrscheinlich nicht auf einen Fehler einigen.“