Vergib mir!

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Ein zum Scheitern verurteilter Kampf
 
Denke ich darüber nach, kommt es mir so vor, als wäre eine lange Zeit vergangen, seit ich das letzte Mal jemandem vergeben habe. Es muss nicht zwangsläufig so sein, aber es sieht ganz danach aus.
 
Die Gepflogenheit, unseren muslimischen Geschwistern zu vergeben, wurde uns allen eingeflößt und beigebracht. Es kommt jedoch vor, dass wir diese Gepflogenheit manchmal vergessen oder gar ignorieren. Jedoch vertrete ich die Ansicht, dass gemeinsam mit all den Aufständen und politischen Veränderungen, die momentan auf der ganzen Welt zu verzeichnen sind, es der richtige Zeitpunkt ist, eben diesen Charakter wieder ins Leben zu rufen!
 
Manchmal benötigen wir lediglich einen kleinen Anstoß, damit die Dinge in Gang kommen. Die ganze Sache beginnt bei einem Menschen und geht zum Nächsten über, dann zum Nächsten und dann zum Nächsten. So wie unsere frommen Vorfahren zur Verbreitung des Islâms auf der ganzen Welt ihren Beitrag leisteten, tragen wir in gleicher Weise die Verantwortung, islâmische Prinzipien sowohl im Osten als auch im Westen wiederzubeleben.
 
Ich wurde einst Zeuge, wie sich zwei Freunde über den Schaden an einem Auto miteinander stritten. Der Schaden belief sich womöglich auf etwa 300 € und benötigte zwei Tage für die Reparatur. Das Ganze ereignete sich wie folgt: Ein Freund lieh das Auto eines Anderen. Als er es zurückbrachte, war der Schaden bereits zu sehen.
 
Anstatt eine Lösung finden zu wollen, gingen sie aufeinander los und ein jeder versuchte seinen Standpunkt zu verteidigen. Schließlich endete das Ganze in einem Streit und sie redeten nicht mehr miteinander.
 
Mit etwas mehr Motivation und Anstrengung hätte man aber das Auto mit Leichtigkeit repariert und die Freundschaft beider Herren bewahrt. Werden die Menschen allerdings von Schaitan und seinen Einflüsterungen abgelenkt, verlieren sie die Bedeutung des Vergebens und der gleichmütigen Hinnahme der Fehler Anderer aus den Augen.
 
Ich bin mir sicher, dass wir alle bereits ähnliche Geschichten erlebt haben, wenn nicht schlimmere. Die meisten von uns – um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen – wurden zu einer leicht-selbstsüchtigen Haltung erzogen. Wir wollen die Dinge für uns selbst und sind dabei gewillt, sehr weit zu gehen, um lediglich unsere Wünsche zu befriedigen. Wenn diese Bemühung in den Lebensbereich eines Anderen eindringt, besteht unsere instinktive Reaktion darin, unseren „eigenen Interessen“ zu dienen.
 
Möglicherweise ärgern wir uns zu Tode, fühlen uns gekränkt, werden gewalttätig und benehmen uns unglaublich arrogant. Jedoch fehlt es uns an Stärke, um uns gleichmütig zu verhalten und das Problem gelassen hinzunehmen. Wir sind zu schwach, jemandem zu vergeben und ohnmächtig, wenn es darum geht, um Vergebung zu bitten. Das war aber gestern. Heute stehen wir vor einem Neuanfang.
 
Die zwei Gehilfen des Zorns
 
Es gibt im Wesentlichen zwei Gründe, weshalb wir uns nicht tolerant verhalten und den Anderen vergeben, obwohl wir doch sehr genau wissen, dass das so nicht sein darf.
 
Zum einen sind wir es nicht gewohnt, gegenüber anderen Nachsicht walten zu lassen, denn die scheußlichen Merkmale der Gier und der Selbstsucht dominieren in unseren Gesellschaften die Tugenden der Selbstlosigkeit und der Nächstenliebe. Träger von Gier und Selbstsucht werden als stark und welterfahren empfunden, die Selbstlosen und Mildtätigen hingegen als sentimental und moralisch schwach.
 
Zum anderen erkennen wir in unseren Herzen nicht die Bedeutung der göttlichen Gaben eines sozialen Wohlbefindens und eines spirituellen Aufstiegs hin zu Gott. Sobald sich die Fronten verhärten, gibt man am besten nach und fördert somit den Frieden. Dabei beziehe ich mich auf allgemeine Situationen, nicht auf Umstände, in denen Wertvolles wie das Leben und die Würde gefährdet sind.
 
Wie oft kommt es aber schon vor, dass wir das Handtuch werfen und sagen: „Du hast gewonnen!“ Allâh sagt: „Und beeilt euch um Vergebung von eurem Herrn und (um) einen (Paradies)garten, dessen Breite (wie) die Himmel und die Erde ist. Er ist für die Gottesfürchtigen bereitet, die in Freude und Leid ausgeben und ihren Grimm zurückhalten und den Menschen verzeihen. Und Allâh liebt die Gutes Tuenden.“ (Sûra 3:133-134)
 
Allâh erwähnt in diesen Versen, dass uns Großartiges im Paradies erwartet, falls wir uns in Geduld üben, unseren Zorn bändigen und das Weltliche aufgeben, indem wir denen vergeben, die uns ungerecht behandelt haben. Hierzu kann man positive Beispiele im Leben des Propheten Muhammad entdecken. Zu nennen wäre hier wie der Prophet Muhammad dem Führer der Heuchler, Abdullâh ibn Ubayy, verzieh, obwohl er ein unerbittlicher Gegner des Islâms und der Muslime war. Dabei handelt es sich um die gleiche Person, die die Gerüchte über Âischa, dass sie untreu gewesen wäre, verbreitete. Er versuchte stets den Muslimen zu schaden und in ihren Reihen Unruhe zu stiften.
 
Schließlich beseitigte Allâh alle Zweifel, indem er die letzten Verse der Sûra An-Nûr offenbarte. Selbst nach diesem Kummer und dem Schmerz, den er verursachte, wurde ihm die Vergebung des Propheten Muhammad zuteil.
 
Das Zeug zum Erfolg
 
Wie selbstsüchtig sind wir, dass wir, was uns selbst betrifft, jemandem nicht vergeben können, der uns Unrecht tat oder auf irgendeine Weise Schaden zufügte, der gewiss weniger Folgen und Schmerz mit sich bringt als das begangene Unrecht? Wie man weiß war es genau diese Selbstlosigkeit des Propheten und seiner Gefährten, die die gegenseitige Liebe und Barmherzigkeit aufgehen ließ, um ihre Herzen in Einigkeit zu verbinden. Aus diesem Grund waren sie im Umgang mit allen Herausforderungen erfolgreich und sie erhielten die Kraft, diese Botschaft der Tugend und Rechtschaffenheit auf der ganzen Welt zu verbreiten und allen künftigen Generationen zu überbringen.
 
Zweifelsohne liegt ihrer Errungenschaft ein wichtiges Erfolgselement zugrunde, nämlich ihr Wissen und ihr Verständnis für die Bedeutung der Nachsicht. Sie glaubten fest daran, dass wenn sie jemandem vergeben und Nachsicht üben, Allâh auch ihnen vergeben und im Umgang mit ihnen Gnade walten lassen wird.
 
Im Vergleich zu unseren frommen Vorfahren haben wir uns so sehr an unsere Sünden gewöhnt, dass wir manchmal vergessen, wie wichtig es ist, um Vergebung zu bitten und Nachsicht im Umgang mit Anderen zu üben.
 
Allâh sagt: „[…] sondern sie sollen verzeihen und nachsichtig sein. Liebt ihr es (selbst) nicht, dass Allâh euch vergibt? Allâh ist Allvergebend und Barmherzig.“ (Sûra 24:22) Sobald wir also begriffen haben, dass Allâh uns jedesmal vergibt, wenn wir Anderen vergeben, wirst du damit beginnen nach Menschen Ausschau zu halten, die dir auf deine Füße treten. Wenn wir über jemandes Fehler hinwegsehen, wird Allâh auch über unsere Fehler hinwegsehen. Setzen wir uns für jemanden ein und verteidigen ihn, setzen sich die Engel für uns ein und verteidigen uns! Wer sind wir schon, dass sich die Engel um uns sorgen und sich für uns einsetzen? Anders ausgedrückt wird uns Gutes zuteil, wenn wir anderen Menschen Gutes tun.
 
Sind die Wissenden und Unwissenden gleich?
 
Ein bekannter Gelehrter erwähnt in seinem Buch zwei Schwächen, die der Prophet bei seinen Gefährten zu beheben versuchte. Zum einen die Unwissenheit und zum anderen die Ungeduld. Beide Schwächen sind faule Quellen einer intoleranten und unversöhnlichen Natur.
 
Doch wenn wir damit beginnen, unsere Wut und unseren Zorn abzulegen, wird es recht einfach sein, den Menschen zu vergeben. Lassen wir die Dinge einfach laufen, wenn Andere Fehler begehen, wird die Sache unkomplizierter, denn dann gibt es eine Strapaze weniger, über die wir uns ärgern, eine Beschwernis weniger, die wir uns aufbürden müssen. Meine Belastung wird dadurch ausgeglichen und das Leben wird für meine Kinder und meine gesamte Familie viel einfacher. Der Frieden verwirklicht sich und beschränkt sich nicht nur auf eine Wunschvorstellung.
 
Setzt du diese Erkenntnis in deiner Gemeinschaft um, werden sich schnell die Früchte bemerkbar machen, und schon bald wird die Vergebung so wie die Luft, die wir atmen, allgegenwärtig sein. In absehbarer Zeit werden wir von den zahlreichen Sünden reingewaschen werden, die wir uns durch gegenseitiges Unrecht aufgeladen haben. Dadurch erlangen wir unzählig schöne Momente, und vielleicht sind es eben diese Augenblicke, die uns schließlich in die immerwährende Glückseligkeit im Garten der Freude eintreten lassen.
 
Die gegenseitige Vergebung ist eine Eigenschaft, die unser geliebter Prophet Muhammad allen Muslimen wünschte. Er wusste nämlich, dass diese Eigenschaft der Schlüssel zum Erfolg und zum Heil auf diesem Planeten ist und in gleicher Weise im Jenseits nutzt.
 
Der Weg zum Frieden führt über die vom Herzen kommende Vergebung und die Fähigkeit, Anderen keine Vorwürfe zu machen, wenn sie Fehler begehen. Unser Plan A sieht daher wie folgt aus: Wir eignen uns gemeinsam diese Eigenschaft an und vergeben unseren Freunden, Familien, Älteren, Eltern, Kindern, bereits Verstorbenen, Weggefährten und allen Menschen, denen wir begegnen. Daraus erschließt sich Plan B: Wir fahren fort, den Menschen zu vergeben und ihre Fehler zu übersehen, bis Allâh unsere Bitte um Vergebung annimmt, die wir uns selbst dringend wünschen.

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